Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den, und die Treppe hinauf nach einem Zimmer, aus welchem uns
ängstliche Klagetöne entgegenschallten.

-- Warten Sie hier einen Augenblick! bat er, verschwand mit
leisen Schritten und ließ mir Zeit, die mich umgebenden Gegenstände
zu betrachten. Ueberall fand ich eine große, auf das Höchste getrie¬
bene Reinlichkeit. Weiß war der Fußboden, weiß die Wände und
auch die meisten Geräthschaften trugen diese Farbe. Nirgends war
eine Spur von Staub oder ein Spinnengewebe; nirgends ein Fleck
oder ein Riß. Alles schien kaum berührt, geschweige denn gebraucht
oder abgenutzt zu sein, aber dabei schmiegte sich auch um jeden Ge¬
genstand eine Decke, ein Futteral oder ein Ueberzug, der mit großer
Sorgfalt verschlossen und darum gepaßt war. So standen z. B. die
Stühle in künstlich gearbeiteten Kasten von weißem Tannenholze,
ohne daß dadurch ihre Form verstellt oder ihr Gebrauch verhindert
worden wäre, und über die Gemälde, die in schwer vergoldeten Nah¬
men an den Wänden hingen, breitete sich gleichfalls eine Decke aus,
die freilich jedes Beschauen unmöglich machte.

Nach wenigen Minuten kehrte der Diener zurück und führte
mich zu dem Kranken, der in einem auf gleiche Weise decorirten
Zimmer saß und mir, das Gesicht nach dem Fenster gewendet,
mit einer von Husten unterbrochenen Stimme zurief: Herr Doctor!
-- lieber Doctor! -- ich -- sterbe! --

Wie kläglich und matt auch die Stimme war, so erkannte ich
doch an der Haltung des Körpers, der freien kräftigen Bewegung
der Hände und der ganzen Gestalt, wie sie trotz der vielen Schach-
teln und Hüllen sich mir zeigte, daß es unmöglich so nahe mit dem
Ende sein könnte. Ich näherte mich, faßte des Kranken Hand und
fand den Puls so regelmäßig und normal, wie er bei einem Gesun¬
den nur sein kann. Indem ich ihm das bemerklich machen und ihn
über seinen Zustand beruhigen wollte, rief er mit großer Heftigkeit
dem Diener zu: Friedrich! um Gotteswillen! tritt nicht so hart auf,
Du bringst mich unter die Erde! -- Dann wandte er sich zu mir
und sagte: Sie werden mich sehr schwach finden, Herr Doctor! --
ach, schon zu lange leide ich, ohne daß mir Jemand hätte helfen
können; -- ich erinnere mich Ihrer noch aus früherer Zeit und hatte
Zutrauen zu Ihnen gefaßt, da Sie mich immer am vollkommensten
nachahmen konnten -- o damals -- waren es goldene Tage --


den, und die Treppe hinauf nach einem Zimmer, aus welchem uns
ängstliche Klagetöne entgegenschallten.

— Warten Sie hier einen Augenblick! bat er, verschwand mit
leisen Schritten und ließ mir Zeit, die mich umgebenden Gegenstände
zu betrachten. Ueberall fand ich eine große, auf das Höchste getrie¬
bene Reinlichkeit. Weiß war der Fußboden, weiß die Wände und
auch die meisten Geräthschaften trugen diese Farbe. Nirgends war
eine Spur von Staub oder ein Spinnengewebe; nirgends ein Fleck
oder ein Riß. Alles schien kaum berührt, geschweige denn gebraucht
oder abgenutzt zu sein, aber dabei schmiegte sich auch um jeden Ge¬
genstand eine Decke, ein Futteral oder ein Ueberzug, der mit großer
Sorgfalt verschlossen und darum gepaßt war. So standen z. B. die
Stühle in künstlich gearbeiteten Kasten von weißem Tannenholze,
ohne daß dadurch ihre Form verstellt oder ihr Gebrauch verhindert
worden wäre, und über die Gemälde, die in schwer vergoldeten Nah¬
men an den Wänden hingen, breitete sich gleichfalls eine Decke aus,
die freilich jedes Beschauen unmöglich machte.

Nach wenigen Minuten kehrte der Diener zurück und führte
mich zu dem Kranken, der in einem auf gleiche Weise decorirten
Zimmer saß und mir, das Gesicht nach dem Fenster gewendet,
mit einer von Husten unterbrochenen Stimme zurief: Herr Doctor!
— lieber Doctor! — ich — sterbe! —

Wie kläglich und matt auch die Stimme war, so erkannte ich
doch an der Haltung des Körpers, der freien kräftigen Bewegung
der Hände und der ganzen Gestalt, wie sie trotz der vielen Schach-
teln und Hüllen sich mir zeigte, daß es unmöglich so nahe mit dem
Ende sein könnte. Ich näherte mich, faßte des Kranken Hand und
fand den Puls so regelmäßig und normal, wie er bei einem Gesun¬
den nur sein kann. Indem ich ihm das bemerklich machen und ihn
über seinen Zustand beruhigen wollte, rief er mit großer Heftigkeit
dem Diener zu: Friedrich! um Gotteswillen! tritt nicht so hart auf,
Du bringst mich unter die Erde! — Dann wandte er sich zu mir
und sagte: Sie werden mich sehr schwach finden, Herr Doctor! —
ach, schon zu lange leide ich, ohne daß mir Jemand hätte helfen
können; — ich erinnere mich Ihrer noch aus früherer Zeit und hatte
Zutrauen zu Ihnen gefaßt, da Sie mich immer am vollkommensten
nachahmen konnten — o damals — waren es goldene Tage —


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0058" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181242"/>
            <p xml:id="ID_122" prev="#ID_121"> den, und die Treppe hinauf nach einem Zimmer, aus welchem uns<lb/>
ängstliche Klagetöne entgegenschallten.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_123"> &#x2014; Warten Sie hier einen Augenblick! bat er, verschwand mit<lb/>
leisen Schritten und ließ mir Zeit, die mich umgebenden Gegenstände<lb/>
zu betrachten. Ueberall fand ich eine große, auf das Höchste getrie¬<lb/>
bene Reinlichkeit. Weiß war der Fußboden, weiß die Wände und<lb/>
auch die meisten Geräthschaften trugen diese Farbe. Nirgends war<lb/>
eine Spur von Staub oder ein Spinnengewebe; nirgends ein Fleck<lb/>
oder ein Riß. Alles schien kaum berührt, geschweige denn gebraucht<lb/>
oder abgenutzt zu sein, aber dabei schmiegte sich auch um jeden Ge¬<lb/>
genstand eine Decke, ein Futteral oder ein Ueberzug, der mit großer<lb/>
Sorgfalt verschlossen und darum gepaßt war. So standen z. B. die<lb/>
Stühle in künstlich gearbeiteten Kasten von weißem Tannenholze,<lb/>
ohne daß dadurch ihre Form verstellt oder ihr Gebrauch verhindert<lb/>
worden wäre, und über die Gemälde, die in schwer vergoldeten Nah¬<lb/>
men an den Wänden hingen, breitete sich gleichfalls eine Decke aus,<lb/>
die freilich jedes Beschauen unmöglich machte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_124"> Nach wenigen Minuten kehrte der Diener zurück und führte<lb/>
mich zu dem Kranken, der in einem auf gleiche Weise decorirten<lb/>
Zimmer saß und mir, das Gesicht nach dem Fenster gewendet,<lb/>
mit einer von Husten unterbrochenen Stimme zurief: Herr Doctor!<lb/>
&#x2014; lieber Doctor! &#x2014; ich &#x2014; sterbe! &#x2014;</p><lb/>
            <p xml:id="ID_125" next="#ID_126"> Wie kläglich und matt auch die Stimme war, so erkannte ich<lb/>
doch an der Haltung des Körpers, der freien kräftigen Bewegung<lb/>
der Hände und der ganzen Gestalt, wie sie trotz der vielen Schach-<lb/>
teln und Hüllen sich mir zeigte, daß es unmöglich so nahe mit dem<lb/>
Ende sein könnte. Ich näherte mich, faßte des Kranken Hand und<lb/>
fand den Puls so regelmäßig und normal, wie er bei einem Gesun¬<lb/>
den nur sein kann. Indem ich ihm das bemerklich machen und ihn<lb/>
über seinen Zustand beruhigen wollte, rief er mit großer Heftigkeit<lb/>
dem Diener zu: Friedrich! um Gotteswillen! tritt nicht so hart auf,<lb/>
Du bringst mich unter die Erde! &#x2014; Dann wandte er sich zu mir<lb/>
und sagte: Sie werden mich sehr schwach finden, Herr Doctor! &#x2014;<lb/>
ach, schon zu lange leide ich, ohne daß mir Jemand hätte helfen<lb/>
können; &#x2014; ich erinnere mich Ihrer noch aus früherer Zeit und hatte<lb/>
Zutrauen zu Ihnen gefaßt, da Sie mich immer am vollkommensten<lb/>
nachahmen konnten &#x2014; o damals &#x2014; waren es goldene Tage &#x2014;</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0058] den, und die Treppe hinauf nach einem Zimmer, aus welchem uns ängstliche Klagetöne entgegenschallten. — Warten Sie hier einen Augenblick! bat er, verschwand mit leisen Schritten und ließ mir Zeit, die mich umgebenden Gegenstände zu betrachten. Ueberall fand ich eine große, auf das Höchste getrie¬ bene Reinlichkeit. Weiß war der Fußboden, weiß die Wände und auch die meisten Geräthschaften trugen diese Farbe. Nirgends war eine Spur von Staub oder ein Spinnengewebe; nirgends ein Fleck oder ein Riß. Alles schien kaum berührt, geschweige denn gebraucht oder abgenutzt zu sein, aber dabei schmiegte sich auch um jeden Ge¬ genstand eine Decke, ein Futteral oder ein Ueberzug, der mit großer Sorgfalt verschlossen und darum gepaßt war. So standen z. B. die Stühle in künstlich gearbeiteten Kasten von weißem Tannenholze, ohne daß dadurch ihre Form verstellt oder ihr Gebrauch verhindert worden wäre, und über die Gemälde, die in schwer vergoldeten Nah¬ men an den Wänden hingen, breitete sich gleichfalls eine Decke aus, die freilich jedes Beschauen unmöglich machte. Nach wenigen Minuten kehrte der Diener zurück und führte mich zu dem Kranken, der in einem auf gleiche Weise decorirten Zimmer saß und mir, das Gesicht nach dem Fenster gewendet, mit einer von Husten unterbrochenen Stimme zurief: Herr Doctor! — lieber Doctor! — ich — sterbe! — Wie kläglich und matt auch die Stimme war, so erkannte ich doch an der Haltung des Körpers, der freien kräftigen Bewegung der Hände und der ganzen Gestalt, wie sie trotz der vielen Schach- teln und Hüllen sich mir zeigte, daß es unmöglich so nahe mit dem Ende sein könnte. Ich näherte mich, faßte des Kranken Hand und fand den Puls so regelmäßig und normal, wie er bei einem Gesun¬ den nur sein kann. Indem ich ihm das bemerklich machen und ihn über seinen Zustand beruhigen wollte, rief er mit großer Heftigkeit dem Diener zu: Friedrich! um Gotteswillen! tritt nicht so hart auf, Du bringst mich unter die Erde! — Dann wandte er sich zu mir und sagte: Sie werden mich sehr schwach finden, Herr Doctor! — ach, schon zu lange leide ich, ohne daß mir Jemand hätte helfen können; — ich erinnere mich Ihrer noch aus früherer Zeit und hatte Zutrauen zu Ihnen gefaßt, da Sie mich immer am vollkommensten nachahmen konnten — o damals — waren es goldene Tage —

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/58
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/58>, abgerufen am 01.09.2024.