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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Knechtschaft nur noch in der Erinnerung leben wird, wenn ein rau¬
her Schicksalsbesen, der sich immer findet, wo die Vertreter des Schick¬
sals ihren Beruf verkennen, die letzten Reste des alten Feudalwesens
mit allen Rechtsungleichheiten und den anderen Pleonasmen deö
jetzigen juridischen Elends weggefegt und die Deutschen zum lebendi¬
gen Bewußtsein ihrer Nationalität getrieben haben wird; -- in hun¬
dert Jahren, sage ich, oder doch in einer mehr oder weniger fernen Zu¬
kunft werden die Geschichtschreiber auch vom neunzehnten Jahrhun¬
dert, und namentlich auch von den Ereignissen der gegenwärtigen
Periode sprechen und sie werden keinen Glauben finden bei ihren
Zeitgenossen, weil in diesen Ereignissen sich so viel Widersprüche und
Contraste, so viel Wunder vorkommen und jene Zukunft wenig
Glaubensfähigkeit für das jetzt so beliebte Wunderbare haben wird.
Das kann uns nicht befremden, da wir ja selbst uns bei mancher Kunde,
die wir vernehmen, die Augen reiben und uns fragen müssen, ob
wir wachen oder träumen? -- Nun denke man sich einen nach hun¬
dert Jahren auftretenden Geschichtschreiber, der, nachdem er von der
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, von den Lichtmassen, welche
der Nationalismus der Kantischen Philosophie in allen Gebieten der
Wissenschaft , in allen Winkeln und Ecken deö socialen Lebens ver¬
breitete, von den durch die französische Revolution in Umlauf gekom¬
menen politischen Ideen, von dem Enthusiasmus des Befreiungs¬
krieges 1813 und 1814, von den schonen Idealen deutscher Natio¬
nalität, die aus den ersten Verhandlungen des Wiener Kongresses
auftauchten, von den großen Erwartungen, welche die deutschen Völ¬
ker damals an die liberalen Versprechungen ihrer dankbaren Fürsten
knüpften, -- ausführlich gesprochen hat, nun auf das zu reden
kommt, was in den folgenden Decennien nun wirklich geschehen ist,
und wie die auf feierliche Versprechungen gegründeten Hoffnungen
in Erfüllung gegangen sind.

Was wird man sagen, wenn der supponirte Historiker z. B.
erzählt: Seit dem Ende des zweiten Jahrzehends kam ein Censur¬
zwang auf, der sich immer steigerte, fo daß er endlich eine in Deutsch¬
land unerhörte Stärke erreichte. Die.Regierungen, selbst die mäch¬
tigen und starken, erschracken vor dem freien Worte, als wäre es ein
gegen das Staatsgebäude angelegter Mauerbrecher, und häusig wur¬
den literarische Handlanger officiell angestellt, welche in Gegenschrif-


Knechtschaft nur noch in der Erinnerung leben wird, wenn ein rau¬
her Schicksalsbesen, der sich immer findet, wo die Vertreter des Schick¬
sals ihren Beruf verkennen, die letzten Reste des alten Feudalwesens
mit allen Rechtsungleichheiten und den anderen Pleonasmen deö
jetzigen juridischen Elends weggefegt und die Deutschen zum lebendi¬
gen Bewußtsein ihrer Nationalität getrieben haben wird; — in hun¬
dert Jahren, sage ich, oder doch in einer mehr oder weniger fernen Zu¬
kunft werden die Geschichtschreiber auch vom neunzehnten Jahrhun¬
dert, und namentlich auch von den Ereignissen der gegenwärtigen
Periode sprechen und sie werden keinen Glauben finden bei ihren
Zeitgenossen, weil in diesen Ereignissen sich so viel Widersprüche und
Contraste, so viel Wunder vorkommen und jene Zukunft wenig
Glaubensfähigkeit für das jetzt so beliebte Wunderbare haben wird.
Das kann uns nicht befremden, da wir ja selbst uns bei mancher Kunde,
die wir vernehmen, die Augen reiben und uns fragen müssen, ob
wir wachen oder träumen? — Nun denke man sich einen nach hun¬
dert Jahren auftretenden Geschichtschreiber, der, nachdem er von der
Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, von den Lichtmassen, welche
der Nationalismus der Kantischen Philosophie in allen Gebieten der
Wissenschaft , in allen Winkeln und Ecken deö socialen Lebens ver¬
breitete, von den durch die französische Revolution in Umlauf gekom¬
menen politischen Ideen, von dem Enthusiasmus des Befreiungs¬
krieges 1813 und 1814, von den schonen Idealen deutscher Natio¬
nalität, die aus den ersten Verhandlungen des Wiener Kongresses
auftauchten, von den großen Erwartungen, welche die deutschen Völ¬
ker damals an die liberalen Versprechungen ihrer dankbaren Fürsten
knüpften, — ausführlich gesprochen hat, nun auf das zu reden
kommt, was in den folgenden Decennien nun wirklich geschehen ist,
und wie die auf feierliche Versprechungen gegründeten Hoffnungen
in Erfüllung gegangen sind.

Was wird man sagen, wenn der supponirte Historiker z. B.
erzählt: Seit dem Ende des zweiten Jahrzehends kam ein Censur¬
zwang auf, der sich immer steigerte, fo daß er endlich eine in Deutsch¬
land unerhörte Stärke erreichte. Die.Regierungen, selbst die mäch¬
tigen und starken, erschracken vor dem freien Worte, als wäre es ein
gegen das Staatsgebäude angelegter Mauerbrecher, und häusig wur¬
den literarische Handlanger officiell angestellt, welche in Gegenschrif-


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[0526] Knechtschaft nur noch in der Erinnerung leben wird, wenn ein rau¬ her Schicksalsbesen, der sich immer findet, wo die Vertreter des Schick¬ sals ihren Beruf verkennen, die letzten Reste des alten Feudalwesens mit allen Rechtsungleichheiten und den anderen Pleonasmen deö jetzigen juridischen Elends weggefegt und die Deutschen zum lebendi¬ gen Bewußtsein ihrer Nationalität getrieben haben wird; — in hun¬ dert Jahren, sage ich, oder doch in einer mehr oder weniger fernen Zu¬ kunft werden die Geschichtschreiber auch vom neunzehnten Jahrhun¬ dert, und namentlich auch von den Ereignissen der gegenwärtigen Periode sprechen und sie werden keinen Glauben finden bei ihren Zeitgenossen, weil in diesen Ereignissen sich so viel Widersprüche und Contraste, so viel Wunder vorkommen und jene Zukunft wenig Glaubensfähigkeit für das jetzt so beliebte Wunderbare haben wird. Das kann uns nicht befremden, da wir ja selbst uns bei mancher Kunde, die wir vernehmen, die Augen reiben und uns fragen müssen, ob wir wachen oder träumen? — Nun denke man sich einen nach hun¬ dert Jahren auftretenden Geschichtschreiber, der, nachdem er von der Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts, von den Lichtmassen, welche der Nationalismus der Kantischen Philosophie in allen Gebieten der Wissenschaft , in allen Winkeln und Ecken deö socialen Lebens ver¬ breitete, von den durch die französische Revolution in Umlauf gekom¬ menen politischen Ideen, von dem Enthusiasmus des Befreiungs¬ krieges 1813 und 1814, von den schonen Idealen deutscher Natio¬ nalität, die aus den ersten Verhandlungen des Wiener Kongresses auftauchten, von den großen Erwartungen, welche die deutschen Völ¬ ker damals an die liberalen Versprechungen ihrer dankbaren Fürsten knüpften, — ausführlich gesprochen hat, nun auf das zu reden kommt, was in den folgenden Decennien nun wirklich geschehen ist, und wie die auf feierliche Versprechungen gegründeten Hoffnungen in Erfüllung gegangen sind. Was wird man sagen, wenn der supponirte Historiker z. B. erzählt: Seit dem Ende des zweiten Jahrzehends kam ein Censur¬ zwang auf, der sich immer steigerte, fo daß er endlich eine in Deutsch¬ land unerhörte Stärke erreichte. Die.Regierungen, selbst die mäch¬ tigen und starken, erschracken vor dem freien Worte, als wäre es ein gegen das Staatsgebäude angelegter Mauerbrecher, und häusig wur¬ den literarische Handlanger officiell angestellt, welche in Gegenschrif-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/526>, abgerufen am 27.07.2024.