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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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losophischen Sinn, den Du in ihr Entfalten legst, zerspringen die
Knospen. Einsam stehst Du auf der Bühne des Lenzes und es
macht Dich traurig, daß Du so unbeschäftigt bleibst unter diesen
Bäumen, Gräsern, Quellen, die alle eifrig mitwirken an dem großen
Schauspiel; Du möchtest die Erde küssen, Deine eigentliche Mutter,
und Dich losreißen von der Stiefmutter Civilisation, für die Du stets
gearbeitet hast, blind, gequält und ohne Ziel, denn wie beneidens-
werth erscheint Dir allen Deinen Irrthümern gegenüber die hohe, sichere
Vollendung der Natur, die nicht erlaubt, daß der Quell, gleich Dir,
einem verirrten Laufe folge, daß der Baum einer andern Entwicklung,
als der ihm eigentlich zukommenden, entgegenstrebe! Dir wird es klar,
daß die Empfindung, die Dich jetzt überkommt, wenn Du sie aus
Dir herausarbeiten könntest, bis zur Einsicht, bis zum Gedan¬
ken, Dir das urewige Räthsel der Schöpfung, die Gottesidee losen
würde. Aber Du weißt, daß dies ein nutzloses Streben wäre, Du
möchtest die Empfindung zum mindesten nur aus sprechen können
und rufst im Gefühl Deiner Ohnmacht: Für diese Empfindung gibt
es kein Wort! Und dennoch es gibt eines, der Dichter hat es ge¬
funden und willst Du es lesen, so wirf Journale und Broschüren,
Philosophie und Jurisprudenz weit von. Dir und lasse die "Studien"
von Adalbert Stifter kommen.,

Die stille Gemeinde der Wiener Literaten versammelt sich gerne
in Masse; der Mangel an einer in der Zeit und ihren Bedürf¬
nissen ruhenden Stellung wird dem Einzelnen weniger fühlbar, wenn
er diesen Mangel als den Charakter eines ganzen Corps betrachten
darf. Was kann es Traurigeres geben für einen Dichter, als wenn
er, die Wirklichkeit vergeßend und von göttlichem Wahnsinn trunken,
bei jeder unwillkürlichen Bewegung die schmerzhafte Zwangsjacke
spürt! der einzige Trost bleibt ihm, daß es außer ihm noch Narren
gibt, die ruhig dasselbe Schicksal ertragen. So lieben sie es sich zu¬
sammen zu setzen und, wenn auch im stillen Herzen rasend, kommt
doch über ihre Lippen kein lautes Wort, das hie und da einen Auf¬
seher reizen könnte; unschuldige Novellchen, tugendhafte Verse, un¬
blutige Scherze theilen sie sich mit; sie, die gerne nach allen Seiten
der WindeSrose zerstieben und vielleicht sich gegenseitig bekämpfen
möchten, wenn ihnen Raum dazu gegeben wäre, weilen friedlich


losophischen Sinn, den Du in ihr Entfalten legst, zerspringen die
Knospen. Einsam stehst Du auf der Bühne des Lenzes und es
macht Dich traurig, daß Du so unbeschäftigt bleibst unter diesen
Bäumen, Gräsern, Quellen, die alle eifrig mitwirken an dem großen
Schauspiel; Du möchtest die Erde küssen, Deine eigentliche Mutter,
und Dich losreißen von der Stiefmutter Civilisation, für die Du stets
gearbeitet hast, blind, gequält und ohne Ziel, denn wie beneidens-
werth erscheint Dir allen Deinen Irrthümern gegenüber die hohe, sichere
Vollendung der Natur, die nicht erlaubt, daß der Quell, gleich Dir,
einem verirrten Laufe folge, daß der Baum einer andern Entwicklung,
als der ihm eigentlich zukommenden, entgegenstrebe! Dir wird es klar,
daß die Empfindung, die Dich jetzt überkommt, wenn Du sie aus
Dir herausarbeiten könntest, bis zur Einsicht, bis zum Gedan¬
ken, Dir das urewige Räthsel der Schöpfung, die Gottesidee losen
würde. Aber Du weißt, daß dies ein nutzloses Streben wäre, Du
möchtest die Empfindung zum mindesten nur aus sprechen können
und rufst im Gefühl Deiner Ohnmacht: Für diese Empfindung gibt
es kein Wort! Und dennoch es gibt eines, der Dichter hat es ge¬
funden und willst Du es lesen, so wirf Journale und Broschüren,
Philosophie und Jurisprudenz weit von. Dir und lasse die „Studien"
von Adalbert Stifter kommen.,

Die stille Gemeinde der Wiener Literaten versammelt sich gerne
in Masse; der Mangel an einer in der Zeit und ihren Bedürf¬
nissen ruhenden Stellung wird dem Einzelnen weniger fühlbar, wenn
er diesen Mangel als den Charakter eines ganzen Corps betrachten
darf. Was kann es Traurigeres geben für einen Dichter, als wenn
er, die Wirklichkeit vergeßend und von göttlichem Wahnsinn trunken,
bei jeder unwillkürlichen Bewegung die schmerzhafte Zwangsjacke
spürt! der einzige Trost bleibt ihm, daß es außer ihm noch Narren
gibt, die ruhig dasselbe Schicksal ertragen. So lieben sie es sich zu¬
sammen zu setzen und, wenn auch im stillen Herzen rasend, kommt
doch über ihre Lippen kein lautes Wort, das hie und da einen Auf¬
seher reizen könnte; unschuldige Novellchen, tugendhafte Verse, un¬
blutige Scherze theilen sie sich mit; sie, die gerne nach allen Seiten
der WindeSrose zerstieben und vielleicht sich gegenseitig bekämpfen
möchten, wenn ihnen Raum dazu gegeben wäre, weilen friedlich


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[0504] losophischen Sinn, den Du in ihr Entfalten legst, zerspringen die Knospen. Einsam stehst Du auf der Bühne des Lenzes und es macht Dich traurig, daß Du so unbeschäftigt bleibst unter diesen Bäumen, Gräsern, Quellen, die alle eifrig mitwirken an dem großen Schauspiel; Du möchtest die Erde küssen, Deine eigentliche Mutter, und Dich losreißen von der Stiefmutter Civilisation, für die Du stets gearbeitet hast, blind, gequält und ohne Ziel, denn wie beneidens- werth erscheint Dir allen Deinen Irrthümern gegenüber die hohe, sichere Vollendung der Natur, die nicht erlaubt, daß der Quell, gleich Dir, einem verirrten Laufe folge, daß der Baum einer andern Entwicklung, als der ihm eigentlich zukommenden, entgegenstrebe! Dir wird es klar, daß die Empfindung, die Dich jetzt überkommt, wenn Du sie aus Dir herausarbeiten könntest, bis zur Einsicht, bis zum Gedan¬ ken, Dir das urewige Räthsel der Schöpfung, die Gottesidee losen würde. Aber Du weißt, daß dies ein nutzloses Streben wäre, Du möchtest die Empfindung zum mindesten nur aus sprechen können und rufst im Gefühl Deiner Ohnmacht: Für diese Empfindung gibt es kein Wort! Und dennoch es gibt eines, der Dichter hat es ge¬ funden und willst Du es lesen, so wirf Journale und Broschüren, Philosophie und Jurisprudenz weit von. Dir und lasse die „Studien" von Adalbert Stifter kommen., Die stille Gemeinde der Wiener Literaten versammelt sich gerne in Masse; der Mangel an einer in der Zeit und ihren Bedürf¬ nissen ruhenden Stellung wird dem Einzelnen weniger fühlbar, wenn er diesen Mangel als den Charakter eines ganzen Corps betrachten darf. Was kann es Traurigeres geben für einen Dichter, als wenn er, die Wirklichkeit vergeßend und von göttlichem Wahnsinn trunken, bei jeder unwillkürlichen Bewegung die schmerzhafte Zwangsjacke spürt! der einzige Trost bleibt ihm, daß es außer ihm noch Narren gibt, die ruhig dasselbe Schicksal ertragen. So lieben sie es sich zu¬ sammen zu setzen und, wenn auch im stillen Herzen rasend, kommt doch über ihre Lippen kein lautes Wort, das hie und da einen Auf¬ seher reizen könnte; unschuldige Novellchen, tugendhafte Verse, un¬ blutige Scherze theilen sie sich mit; sie, die gerne nach allen Seiten der WindeSrose zerstieben und vielleicht sich gegenseitig bekämpfen möchten, wenn ihnen Raum dazu gegeben wäre, weilen friedlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/504>, abgerufen am 27.07.2024.