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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Die Fortfchrittstheorie in Deutschland



Seit Kurzem fängt der politische Indifferentismus wieder ein
mit Macht um sich zu greifen. Das warme Interesse der ersten vier¬
ziger Jahre ist abgekältet und als sein Niederschlag eine Menge von
Theorien verblieben, die wie Pilze -aus der Erde aufgeschossen. Das
Loos alles Großen und Herrlichen in Deutschland! Die Matther¬
zigkeit unserer gelehrten Stubenhockern hat kein Organ für ein un¬
mittelbar frisches Interesse; erst im Hohlspiegel der Theorie will eS
angeschaut werden, um der metaphysischen Kaltblütigkeit keinen Ein¬
trag zu thun. Wir sind immer auf der Flucht vor unsern eignen
HerzenSintcrcssen, wir müssen sie erst von uns abtrennen, um ihrer
bewußt zu werden. Von Kindheit an werden wir belehrt, uns sel¬
ber zu mißtrauen, uns abzutödten und unsrer selbst zu entäußern.
Da gebricht es dann natürlicher Weise dem Leben an Selbstgewi߬
heit und Selbstvertrauen; von der Theorie wird gläubig der Bestim¬
mungsgrund alles Handelns erwartet und doch ist ihr oberstes Princip
der Zweifel. Zur lächerlichsten Sklaverei erzogen, zum Knechtes¬
dienst einer schwanken Grille, die wir mit dem Namen der Idee aus-
staffiren, entbehren wir von vorneherein der Befähigung zur Freiheit.
Man darf nur hören, was unsere gefeierten Vernunft- und Wissens¬
helden uns als höchste Entwicklungsphase deutschen Lebens anpreisen,
und man wird kaum einen Augenblick lang Bedenken tragen, den
status puo dieser vorzuziehen. Nicht wir selber sind uns die Idee,
wie sie den andern Völkern der Ausdruck ihres eignen Wesens ist:
sie ist uns eine Macht des Himmels, die uns am Gängelbande
einer jenseitigen phantastischen Weisheit leitet, eine starre fremde
Gottheit, zu der wir kein anderes Verhältniß haben, als das deS
Wissens. Und wie die Andacht, die dem Gotte der Religion dar¬
gebracht wird, das einsame Kämmerlein heischt, eben so schließt die-


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Die Fortfchrittstheorie in Deutschland



Seit Kurzem fängt der politische Indifferentismus wieder ein
mit Macht um sich zu greifen. Das warme Interesse der ersten vier¬
ziger Jahre ist abgekältet und als sein Niederschlag eine Menge von
Theorien verblieben, die wie Pilze -aus der Erde aufgeschossen. Das
Loos alles Großen und Herrlichen in Deutschland! Die Matther¬
zigkeit unserer gelehrten Stubenhockern hat kein Organ für ein un¬
mittelbar frisches Interesse; erst im Hohlspiegel der Theorie will eS
angeschaut werden, um der metaphysischen Kaltblütigkeit keinen Ein¬
trag zu thun. Wir sind immer auf der Flucht vor unsern eignen
HerzenSintcrcssen, wir müssen sie erst von uns abtrennen, um ihrer
bewußt zu werden. Von Kindheit an werden wir belehrt, uns sel¬
ber zu mißtrauen, uns abzutödten und unsrer selbst zu entäußern.
Da gebricht es dann natürlicher Weise dem Leben an Selbstgewi߬
heit und Selbstvertrauen; von der Theorie wird gläubig der Bestim¬
mungsgrund alles Handelns erwartet und doch ist ihr oberstes Princip
der Zweifel. Zur lächerlichsten Sklaverei erzogen, zum Knechtes¬
dienst einer schwanken Grille, die wir mit dem Namen der Idee aus-
staffiren, entbehren wir von vorneherein der Befähigung zur Freiheit.
Man darf nur hören, was unsere gefeierten Vernunft- und Wissens¬
helden uns als höchste Entwicklungsphase deutschen Lebens anpreisen,
und man wird kaum einen Augenblick lang Bedenken tragen, den
status puo dieser vorzuziehen. Nicht wir selber sind uns die Idee,
wie sie den andern Völkern der Ausdruck ihres eignen Wesens ist:
sie ist uns eine Macht des Himmels, die uns am Gängelbande
einer jenseitigen phantastischen Weisheit leitet, eine starre fremde
Gottheit, zu der wir kein anderes Verhältniß haben, als das deS
Wissens. Und wie die Andacht, die dem Gotte der Religion dar¬
gebracht wird, das einsame Kämmerlein heischt, eben so schließt die-


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[0415] Die Fortfchrittstheorie in Deutschland Seit Kurzem fängt der politische Indifferentismus wieder ein mit Macht um sich zu greifen. Das warme Interesse der ersten vier¬ ziger Jahre ist abgekältet und als sein Niederschlag eine Menge von Theorien verblieben, die wie Pilze -aus der Erde aufgeschossen. Das Loos alles Großen und Herrlichen in Deutschland! Die Matther¬ zigkeit unserer gelehrten Stubenhockern hat kein Organ für ein un¬ mittelbar frisches Interesse; erst im Hohlspiegel der Theorie will eS angeschaut werden, um der metaphysischen Kaltblütigkeit keinen Ein¬ trag zu thun. Wir sind immer auf der Flucht vor unsern eignen HerzenSintcrcssen, wir müssen sie erst von uns abtrennen, um ihrer bewußt zu werden. Von Kindheit an werden wir belehrt, uns sel¬ ber zu mißtrauen, uns abzutödten und unsrer selbst zu entäußern. Da gebricht es dann natürlicher Weise dem Leben an Selbstgewi߬ heit und Selbstvertrauen; von der Theorie wird gläubig der Bestim¬ mungsgrund alles Handelns erwartet und doch ist ihr oberstes Princip der Zweifel. Zur lächerlichsten Sklaverei erzogen, zum Knechtes¬ dienst einer schwanken Grille, die wir mit dem Namen der Idee aus- staffiren, entbehren wir von vorneherein der Befähigung zur Freiheit. Man darf nur hören, was unsere gefeierten Vernunft- und Wissens¬ helden uns als höchste Entwicklungsphase deutschen Lebens anpreisen, und man wird kaum einen Augenblick lang Bedenken tragen, den status puo dieser vorzuziehen. Nicht wir selber sind uns die Idee, wie sie den andern Völkern der Ausdruck ihres eignen Wesens ist: sie ist uns eine Macht des Himmels, die uns am Gängelbande einer jenseitigen phantastischen Weisheit leitet, eine starre fremde Gottheit, zu der wir kein anderes Verhältniß haben, als das deS Wissens. Und wie die Andacht, die dem Gotte der Religion dar¬ gebracht wird, das einsame Kämmerlein heischt, eben so schließt die- 52 -i-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/415>, abgerufen am 05.12.2024.