Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nicht gekannte neueste Werk geworfen hat. Unerklärlich ist die Ober¬
flächlichkeit, mit der man die Erscheinung der "Geheimnisse" betrach¬
tet hat, statt die Tiefe ihres Wesens zu untersuchen und darauf eine
neue Richtung der Spekulation in der Anwendung auf deutsche Ver¬
hältnisse zu versuchen.

Nicht aber Sue'ö anziehendes Darstellungstalent hat das enorme
Glück des Romans gemacht, wie unerläßlich jenes auch war. Nein,
er hat die große moderne Aufgabe des Romans, die ihn in der Sphäre
der bloßen Unterhaltung zum Träger der wichtigsten socialen Interes¬
sen macht, verstanden. Das war es, was ihm die allgemeinen
Sympathien zuwandte, nachdem Bulwer in seinem "Ernst Matera^
Vers" in den höhern geistigen Bezügen der Gesellschaft und Dickens
in den Niederungen ihres physischen Elends schildernd vorangegan¬
gen war. Der breite Spiegel, den Sue der kranken Staatswelt
vorgehalten, hat bei weitem noch nicht alle socialen Krankheitsfor-
men derselben dichterisch zurückgestrahlt. Noch viele einzelne Zustände
wären auf diese Weise zur Erscheinung zu bringen, die nicht sowohl
geheim, als in dem beständigen Umschwunge des Tageslebens über¬
sehen geblieben sind. Hierzu aber ist nicht Eugen Sue einzig und
allein der Mann, sondern es finden sich wohl ihm ebenbürtige und
selbst höher zu stellende deutsche Talente, sobald man sie nur auf¬
suchen will. Dies zu thun, ist ohne Zweifel als eine nationale
Ehrensache für die deutschen Verleger belletristischer Schriften zu be¬
trachten, wenn man auch von Wolfgang Menzel's bärbeißig coquetti-
render Deutschtümelei himmelweit entfernt ist. Die Bewahrung des
patriotischen Selbstgefühls schließt wahrlich die hochherzige Aner¬
kennung der gelungenen ausländischen Geisteöwerke und daher die
deutsche Literatur die Übersetzungen derselben nicht aus. Aber was
zu arg ist, ist zu arg, und das ist's jetzt mit der deutschen Geschichte
des französischen "ewigen Juden", für den ein deutscher Verleger,
blos auf Sue's Namen hin, ein Monopol für die Uebersetzung um
einen Preis erkauft, den er sür den vortrefflichsten deutschen Original¬
roman nie gezahlt hätte.

Man sage nicht, daß die zahlreichen Nachahmungen der "Ge¬
heimnisse", diesen Vorwurf der Vernachlässigung des deutschen Ta¬
lentes widerlegen. Eben weil sämmtliche Schriften der Art als


nicht gekannte neueste Werk geworfen hat. Unerklärlich ist die Ober¬
flächlichkeit, mit der man die Erscheinung der „Geheimnisse" betrach¬
tet hat, statt die Tiefe ihres Wesens zu untersuchen und darauf eine
neue Richtung der Spekulation in der Anwendung auf deutsche Ver¬
hältnisse zu versuchen.

Nicht aber Sue'ö anziehendes Darstellungstalent hat das enorme
Glück des Romans gemacht, wie unerläßlich jenes auch war. Nein,
er hat die große moderne Aufgabe des Romans, die ihn in der Sphäre
der bloßen Unterhaltung zum Träger der wichtigsten socialen Interes¬
sen macht, verstanden. Das war es, was ihm die allgemeinen
Sympathien zuwandte, nachdem Bulwer in seinem „Ernst Matera^
Vers" in den höhern geistigen Bezügen der Gesellschaft und Dickens
in den Niederungen ihres physischen Elends schildernd vorangegan¬
gen war. Der breite Spiegel, den Sue der kranken Staatswelt
vorgehalten, hat bei weitem noch nicht alle socialen Krankheitsfor-
men derselben dichterisch zurückgestrahlt. Noch viele einzelne Zustände
wären auf diese Weise zur Erscheinung zu bringen, die nicht sowohl
geheim, als in dem beständigen Umschwunge des Tageslebens über¬
sehen geblieben sind. Hierzu aber ist nicht Eugen Sue einzig und
allein der Mann, sondern es finden sich wohl ihm ebenbürtige und
selbst höher zu stellende deutsche Talente, sobald man sie nur auf¬
suchen will. Dies zu thun, ist ohne Zweifel als eine nationale
Ehrensache für die deutschen Verleger belletristischer Schriften zu be¬
trachten, wenn man auch von Wolfgang Menzel's bärbeißig coquetti-
render Deutschtümelei himmelweit entfernt ist. Die Bewahrung des
patriotischen Selbstgefühls schließt wahrlich die hochherzige Aner¬
kennung der gelungenen ausländischen Geisteöwerke und daher die
deutsche Literatur die Übersetzungen derselben nicht aus. Aber was
zu arg ist, ist zu arg, und das ist's jetzt mit der deutschen Geschichte
des französischen „ewigen Juden", für den ein deutscher Verleger,
blos auf Sue's Namen hin, ein Monopol für die Uebersetzung um
einen Preis erkauft, den er sür den vortrefflichsten deutschen Original¬
roman nie gezahlt hätte.

Man sage nicht, daß die zahlreichen Nachahmungen der „Ge¬
heimnisse", diesen Vorwurf der Vernachlässigung des deutschen Ta¬
lentes widerlegen. Eben weil sämmtliche Schriften der Art als


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0032" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181216"/>
          <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50"> nicht gekannte neueste Werk geworfen hat. Unerklärlich ist die Ober¬<lb/>
flächlichkeit, mit der man die Erscheinung der &#x201E;Geheimnisse" betrach¬<lb/>
tet hat, statt die Tiefe ihres Wesens zu untersuchen und darauf eine<lb/>
neue Richtung der Spekulation in der Anwendung auf deutsche Ver¬<lb/>
hältnisse zu versuchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_52"> Nicht aber Sue'ö anziehendes Darstellungstalent hat das enorme<lb/>
Glück des Romans gemacht, wie unerläßlich jenes auch war. Nein,<lb/>
er hat die große moderne Aufgabe des Romans, die ihn in der Sphäre<lb/>
der bloßen Unterhaltung zum Träger der wichtigsten socialen Interes¬<lb/>
sen macht, verstanden. Das war es, was ihm die allgemeinen<lb/>
Sympathien zuwandte, nachdem Bulwer in seinem &#x201E;Ernst Matera^<lb/>
Vers" in den höhern geistigen Bezügen der Gesellschaft und Dickens<lb/>
in den Niederungen ihres physischen Elends schildernd vorangegan¬<lb/>
gen war. Der breite Spiegel, den Sue der kranken Staatswelt<lb/>
vorgehalten, hat bei weitem noch nicht alle socialen Krankheitsfor-<lb/>
men derselben dichterisch zurückgestrahlt. Noch viele einzelne Zustände<lb/>
wären auf diese Weise zur Erscheinung zu bringen, die nicht sowohl<lb/>
geheim, als in dem beständigen Umschwunge des Tageslebens über¬<lb/>
sehen geblieben sind. Hierzu aber ist nicht Eugen Sue einzig und<lb/>
allein der Mann, sondern es finden sich wohl ihm ebenbürtige und<lb/>
selbst höher zu stellende deutsche Talente, sobald man sie nur auf¬<lb/>
suchen will. Dies zu thun, ist ohne Zweifel als eine nationale<lb/>
Ehrensache für die deutschen Verleger belletristischer Schriften zu be¬<lb/>
trachten, wenn man auch von Wolfgang Menzel's bärbeißig coquetti-<lb/>
render Deutschtümelei himmelweit entfernt ist. Die Bewahrung des<lb/>
patriotischen Selbstgefühls schließt wahrlich die hochherzige Aner¬<lb/>
kennung der gelungenen ausländischen Geisteöwerke und daher die<lb/>
deutsche Literatur die Übersetzungen derselben nicht aus. Aber was<lb/>
zu arg ist, ist zu arg, und das ist's jetzt mit der deutschen Geschichte<lb/>
des französischen &#x201E;ewigen Juden", für den ein deutscher Verleger,<lb/>
blos auf Sue's Namen hin, ein Monopol für die Uebersetzung um<lb/>
einen Preis erkauft, den er sür den vortrefflichsten deutschen Original¬<lb/>
roman nie gezahlt hätte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_53" next="#ID_54"> Man sage nicht, daß die zahlreichen Nachahmungen der &#x201E;Ge¬<lb/>
heimnisse", diesen Vorwurf der Vernachlässigung des deutschen Ta¬<lb/>
lentes widerlegen.  Eben weil sämmtliche Schriften der Art als</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0032] nicht gekannte neueste Werk geworfen hat. Unerklärlich ist die Ober¬ flächlichkeit, mit der man die Erscheinung der „Geheimnisse" betrach¬ tet hat, statt die Tiefe ihres Wesens zu untersuchen und darauf eine neue Richtung der Spekulation in der Anwendung auf deutsche Ver¬ hältnisse zu versuchen. Nicht aber Sue'ö anziehendes Darstellungstalent hat das enorme Glück des Romans gemacht, wie unerläßlich jenes auch war. Nein, er hat die große moderne Aufgabe des Romans, die ihn in der Sphäre der bloßen Unterhaltung zum Träger der wichtigsten socialen Interes¬ sen macht, verstanden. Das war es, was ihm die allgemeinen Sympathien zuwandte, nachdem Bulwer in seinem „Ernst Matera^ Vers" in den höhern geistigen Bezügen der Gesellschaft und Dickens in den Niederungen ihres physischen Elends schildernd vorangegan¬ gen war. Der breite Spiegel, den Sue der kranken Staatswelt vorgehalten, hat bei weitem noch nicht alle socialen Krankheitsfor- men derselben dichterisch zurückgestrahlt. Noch viele einzelne Zustände wären auf diese Weise zur Erscheinung zu bringen, die nicht sowohl geheim, als in dem beständigen Umschwunge des Tageslebens über¬ sehen geblieben sind. Hierzu aber ist nicht Eugen Sue einzig und allein der Mann, sondern es finden sich wohl ihm ebenbürtige und selbst höher zu stellende deutsche Talente, sobald man sie nur auf¬ suchen will. Dies zu thun, ist ohne Zweifel als eine nationale Ehrensache für die deutschen Verleger belletristischer Schriften zu be¬ trachten, wenn man auch von Wolfgang Menzel's bärbeißig coquetti- render Deutschtümelei himmelweit entfernt ist. Die Bewahrung des patriotischen Selbstgefühls schließt wahrlich die hochherzige Aner¬ kennung der gelungenen ausländischen Geisteöwerke und daher die deutsche Literatur die Übersetzungen derselben nicht aus. Aber was zu arg ist, ist zu arg, und das ist's jetzt mit der deutschen Geschichte des französischen „ewigen Juden", für den ein deutscher Verleger, blos auf Sue's Namen hin, ein Monopol für die Uebersetzung um einen Preis erkauft, den er sür den vortrefflichsten deutschen Original¬ roman nie gezahlt hätte. Man sage nicht, daß die zahlreichen Nachahmungen der „Ge¬ heimnisse", diesen Vorwurf der Vernachlässigung des deutschen Ta¬ lentes widerlegen. Eben weil sämmtliche Schriften der Art als

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/32
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/32>, abgerufen am 27.07.2024.