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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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mindestens ohne Selbsttäuschung. Wir glauben es gern, daß die
Richtung der Zeit und das Geschwätz der Tonangeber Vielen die
nöthige Unbefangenheit genommen hat und daß sie das Mißlie¬
bige übergehen oder übersehen, ohne sich dessen bewußt zu werben;
aber in der Wirkung bleibt sich das gleich. Daß dem so ist, könnten
wir, wäre hier der Orr, mit einer Reihe von Beispielen und Quel¬
lenbelegen erhärten. Wohl gibt es noch gnr viele aufrichtige For¬
scher, wie Kommt, Bensen, Arndt, Dahlmann, Häußer und manche
Andere, aber wir sprechen von der Mehrzahl. Die mildert oder
verwischt alle Schatten. Daher die Verschwommenheit und Mädeben
unserer meisten Geschichtöerzählungcn, daher die kleinliche Ausführung
unbedeutender Nebendinge. Das Uebergehen der einen Seite macht
die Darstellung des Ganzen nothwendig schief. Indem sie unterdrük-
ken und auslassen, entstellen und lügen sie. Aufrichtige Berichterstat¬
ter werden als einseitig auffassend von denen zerhackt, die sich ihrer
Unparteilichkeit bei Darstellungen rühmen, bei denen man nicht be¬
greifen könnte, wie sie doch dazu kommen sollten, in ihnen parteiisch
zu werden. Was, dergestalt verändert, die Geschichtsforscher der
Gelehrtenwelt vorlegten, das wurde von den kleinen Büchermachern,
welche ihre großen Werke ausschreiben, in demselben Geiste weiter
benutzt. Der geschichtliche Stoff erfuhr demnach eine zweite und
dritte Durchsicht, bevor er in Volksschriften und Schulbücher über¬
ging, und ward sorglich gesäubert von allem Fatalen, was die Ge¬
wissenhaftigkeit des ersten Betrachters der Quellen durchgelassen hatte.
Die Lesermasse wird also in dem Grade mehr, getäuscht, in welchem
sich die von ihr gelesenen Schriften von der ersten Bearbeitung ent¬
fernen.

Da legt nun der greise Schlosser ein großes Werk über die
neuere Zeit hin und spricht nackt die Ergebnisse seiner Forschung aus
und sagt uns in ihm die volle Wahrheit. Man lese sein acht¬
zehntes Jahrhundert, und man wird staunen.

Die große Aufgabe, welche jeder Historiker, dem seine Wissen¬
schaft am Herzen liegt, sich stellen sott, ist, alle Theile, Zeiten und
Verhältnisse der Vergangenheit aus eigener Anschauung, d. h. durch
unmittelbares Quellenstudium, kennen zu lernen. Diese ungeheuere
Aufgabe hat zwar noch kein Geschichtschreiber erfüllt; wenn aber
Deutschland einen zu nennen hat, der ihrer Lösung sich einigermaßen


mindestens ohne Selbsttäuschung. Wir glauben es gern, daß die
Richtung der Zeit und das Geschwätz der Tonangeber Vielen die
nöthige Unbefangenheit genommen hat und daß sie das Mißlie¬
bige übergehen oder übersehen, ohne sich dessen bewußt zu werben;
aber in der Wirkung bleibt sich das gleich. Daß dem so ist, könnten
wir, wäre hier der Orr, mit einer Reihe von Beispielen und Quel¬
lenbelegen erhärten. Wohl gibt es noch gnr viele aufrichtige For¬
scher, wie Kommt, Bensen, Arndt, Dahlmann, Häußer und manche
Andere, aber wir sprechen von der Mehrzahl. Die mildert oder
verwischt alle Schatten. Daher die Verschwommenheit und Mädeben
unserer meisten Geschichtöerzählungcn, daher die kleinliche Ausführung
unbedeutender Nebendinge. Das Uebergehen der einen Seite macht
die Darstellung des Ganzen nothwendig schief. Indem sie unterdrük-
ken und auslassen, entstellen und lügen sie. Aufrichtige Berichterstat¬
ter werden als einseitig auffassend von denen zerhackt, die sich ihrer
Unparteilichkeit bei Darstellungen rühmen, bei denen man nicht be¬
greifen könnte, wie sie doch dazu kommen sollten, in ihnen parteiisch
zu werden. Was, dergestalt verändert, die Geschichtsforscher der
Gelehrtenwelt vorlegten, das wurde von den kleinen Büchermachern,
welche ihre großen Werke ausschreiben, in demselben Geiste weiter
benutzt. Der geschichtliche Stoff erfuhr demnach eine zweite und
dritte Durchsicht, bevor er in Volksschriften und Schulbücher über¬
ging, und ward sorglich gesäubert von allem Fatalen, was die Ge¬
wissenhaftigkeit des ersten Betrachters der Quellen durchgelassen hatte.
Die Lesermasse wird also in dem Grade mehr, getäuscht, in welchem
sich die von ihr gelesenen Schriften von der ersten Bearbeitung ent¬
fernen.

Da legt nun der greise Schlosser ein großes Werk über die
neuere Zeit hin und spricht nackt die Ergebnisse seiner Forschung aus
und sagt uns in ihm die volle Wahrheit. Man lese sein acht¬
zehntes Jahrhundert, und man wird staunen.

Die große Aufgabe, welche jeder Historiker, dem seine Wissen¬
schaft am Herzen liegt, sich stellen sott, ist, alle Theile, Zeiten und
Verhältnisse der Vergangenheit aus eigener Anschauung, d. h. durch
unmittelbares Quellenstudium, kennen zu lernen. Diese ungeheuere
Aufgabe hat zwar noch kein Geschichtschreiber erfüllt; wenn aber
Deutschland einen zu nennen hat, der ihrer Lösung sich einigermaßen


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[0203] mindestens ohne Selbsttäuschung. Wir glauben es gern, daß die Richtung der Zeit und das Geschwätz der Tonangeber Vielen die nöthige Unbefangenheit genommen hat und daß sie das Mißlie¬ bige übergehen oder übersehen, ohne sich dessen bewußt zu werben; aber in der Wirkung bleibt sich das gleich. Daß dem so ist, könnten wir, wäre hier der Orr, mit einer Reihe von Beispielen und Quel¬ lenbelegen erhärten. Wohl gibt es noch gnr viele aufrichtige For¬ scher, wie Kommt, Bensen, Arndt, Dahlmann, Häußer und manche Andere, aber wir sprechen von der Mehrzahl. Die mildert oder verwischt alle Schatten. Daher die Verschwommenheit und Mädeben unserer meisten Geschichtöerzählungcn, daher die kleinliche Ausführung unbedeutender Nebendinge. Das Uebergehen der einen Seite macht die Darstellung des Ganzen nothwendig schief. Indem sie unterdrük- ken und auslassen, entstellen und lügen sie. Aufrichtige Berichterstat¬ ter werden als einseitig auffassend von denen zerhackt, die sich ihrer Unparteilichkeit bei Darstellungen rühmen, bei denen man nicht be¬ greifen könnte, wie sie doch dazu kommen sollten, in ihnen parteiisch zu werden. Was, dergestalt verändert, die Geschichtsforscher der Gelehrtenwelt vorlegten, das wurde von den kleinen Büchermachern, welche ihre großen Werke ausschreiben, in demselben Geiste weiter benutzt. Der geschichtliche Stoff erfuhr demnach eine zweite und dritte Durchsicht, bevor er in Volksschriften und Schulbücher über¬ ging, und ward sorglich gesäubert von allem Fatalen, was die Ge¬ wissenhaftigkeit des ersten Betrachters der Quellen durchgelassen hatte. Die Lesermasse wird also in dem Grade mehr, getäuscht, in welchem sich die von ihr gelesenen Schriften von der ersten Bearbeitung ent¬ fernen. Da legt nun der greise Schlosser ein großes Werk über die neuere Zeit hin und spricht nackt die Ergebnisse seiner Forschung aus und sagt uns in ihm die volle Wahrheit. Man lese sein acht¬ zehntes Jahrhundert, und man wird staunen. Die große Aufgabe, welche jeder Historiker, dem seine Wissen¬ schaft am Herzen liegt, sich stellen sott, ist, alle Theile, Zeiten und Verhältnisse der Vergangenheit aus eigener Anschauung, d. h. durch unmittelbares Quellenstudium, kennen zu lernen. Diese ungeheuere Aufgabe hat zwar noch kein Geschichtschreiber erfüllt; wenn aber Deutschland einen zu nennen hat, der ihrer Lösung sich einigermaßen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/203>, abgerufen am 01.09.2024.