Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.Thatsachen die Verklärung zur Poesie gibt, die scharfen Ecken und Thatsachen die Verklärung zur Poesie gibt, die scharfen Ecken und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0016" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/181200"/> <p xml:id="ID_15" prev="#ID_14" next="#ID_16"> Thatsachen die Verklärung zur Poesie gibt, die scharfen Ecken und<lb/> allzuschroffen Vorsprünge mildert, das Unwesentliche von dein We¬<lb/> sentlichen sondert, jenes verschwinden und dieses desto reiner hervor¬<lb/> treten läßt, das Urtheil feststellt, indem sie die Meinungen der Ein¬<lb/> zelnen zu einer allgemeinen Anschauung erhebt, Alles in ruhig gro¬<lb/> ßen Massen scheidet, Gruppen zur Darstellung bildet u. s. w. Ge¬<lb/> nug, unsre Geschichte, die alte und neue, hat für den Dramatiker<lb/> nicht geringere Schwierigkeiten, als unsre Sage. — Indessen, wird<lb/> man meinen, wozu auch diese stoffliche Nationalität, die doch nur<lb/> eine unwesentliche ist? Haben nicht Shakspeare, Göthe und Schil¬<lb/> ler schon längst die Schranke mit Glück durchbrochen? DaS bei<lb/> weitem Wichtigere für die Bildung eines nationalen Theaters, wie<lb/> bei jedem Kunstwerke, ist es nicht die Form? Allerdings! Und hier<lb/> liegt eben der Hund begraben, wie man zu sagen pflegt. Es fehlt<lb/> uns nicht nur an einem zur Benutzung vorbereiteten Material, son¬<lb/> dern auch an einer bestimmten, originalen, allgemein giltigen drama¬<lb/> tischen Form. An diesem Formenmangel krankt unser Theater seit<lb/> Ewigkeit. Die selbständige Entwickelung unsers Dramas wurde in<lb/> ihren Anfängen durch fremde, theils classische, theils romanische, be¬<lb/> sonders französische Einflüsse unterbrochen, und wir sind seitdem trotz<lb/> Lessing, Göthe, Schiller und Romantik zu dem gewünschten und<lb/> wünschenswerthen Ziele nicht gelangt. Ich verstehe unter Form hier<lb/> nicht etwa blos Metrum und Vers, wiewohl in diesen das formale<lb/> Gesetz auch und zunächst seinen Ausdruck findet, sondern noch mehr<lb/> den Styl, das Typische der Charakteristik, die Composition, Scenen¬<lb/> führung und was damit zusammenhängt. Hier zeigt sich bei unsren<lb/> besten Dichtern ein unsichres Schwanken und Wechseln zwischen dem<lb/> Verschiedenartigsten. Lessing vermochte die Gallomanie nicht anders<lb/> zu bannen, alö indem er den Geist Shakspeare's heraufbeschwor<lb/> und mit dessen Hilfe Sinn und Talent entfesselte. Dies war das<lb/> Nächste und Nothwendigste! denn selbst tüchtige Köpfe trieben sich<lb/> in Armseligkeiten herum. Hiervon riß der gewaltige Genius des<lb/> Briten sie los, er nöthigte sie zu kühnerem und tieferen Griffen in<lb/> Geschichte und Gemüth und erweiterte ihre Anschauung in's Unend¬<lb/> liche. Und solches hat er nicht blos in den Dichtern, sondern in<lb/> Allen gewirkt, und er ist insofern, befreiend und befruchtend, der<lb/> Schöpfer unsrer ganzen Literatur geworden; eine Wirkung, die um</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0016]
Thatsachen die Verklärung zur Poesie gibt, die scharfen Ecken und
allzuschroffen Vorsprünge mildert, das Unwesentliche von dein We¬
sentlichen sondert, jenes verschwinden und dieses desto reiner hervor¬
treten läßt, das Urtheil feststellt, indem sie die Meinungen der Ein¬
zelnen zu einer allgemeinen Anschauung erhebt, Alles in ruhig gro¬
ßen Massen scheidet, Gruppen zur Darstellung bildet u. s. w. Ge¬
nug, unsre Geschichte, die alte und neue, hat für den Dramatiker
nicht geringere Schwierigkeiten, als unsre Sage. — Indessen, wird
man meinen, wozu auch diese stoffliche Nationalität, die doch nur
eine unwesentliche ist? Haben nicht Shakspeare, Göthe und Schil¬
ler schon längst die Schranke mit Glück durchbrochen? DaS bei
weitem Wichtigere für die Bildung eines nationalen Theaters, wie
bei jedem Kunstwerke, ist es nicht die Form? Allerdings! Und hier
liegt eben der Hund begraben, wie man zu sagen pflegt. Es fehlt
uns nicht nur an einem zur Benutzung vorbereiteten Material, son¬
dern auch an einer bestimmten, originalen, allgemein giltigen drama¬
tischen Form. An diesem Formenmangel krankt unser Theater seit
Ewigkeit. Die selbständige Entwickelung unsers Dramas wurde in
ihren Anfängen durch fremde, theils classische, theils romanische, be¬
sonders französische Einflüsse unterbrochen, und wir sind seitdem trotz
Lessing, Göthe, Schiller und Romantik zu dem gewünschten und
wünschenswerthen Ziele nicht gelangt. Ich verstehe unter Form hier
nicht etwa blos Metrum und Vers, wiewohl in diesen das formale
Gesetz auch und zunächst seinen Ausdruck findet, sondern noch mehr
den Styl, das Typische der Charakteristik, die Composition, Scenen¬
führung und was damit zusammenhängt. Hier zeigt sich bei unsren
besten Dichtern ein unsichres Schwanken und Wechseln zwischen dem
Verschiedenartigsten. Lessing vermochte die Gallomanie nicht anders
zu bannen, alö indem er den Geist Shakspeare's heraufbeschwor
und mit dessen Hilfe Sinn und Talent entfesselte. Dies war das
Nächste und Nothwendigste! denn selbst tüchtige Köpfe trieben sich
in Armseligkeiten herum. Hiervon riß der gewaltige Genius des
Briten sie los, er nöthigte sie zu kühnerem und tieferen Griffen in
Geschichte und Gemüth und erweiterte ihre Anschauung in's Unend¬
liche. Und solches hat er nicht blos in den Dichtern, sondern in
Allen gewirkt, und er ist insofern, befreiend und befruchtend, der
Schöpfer unsrer ganzen Literatur geworden; eine Wirkung, die um
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