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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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Schiller und Göthe anstimmten; nirgends ein bestimmt gezogener,
fest geschlossener Kreis von allgemein bekannten, allgemein interessan¬
ten, wahrhaft populären, ich möchte sagen, durch den dichterischen
Volksgeist gezeitigten Stoffen. Die Griechen hatten einen solchen in
ihrer Heroensage, ihre Dramatiker waren selbst dem Stoffe nach
national. Freilich hätten sie auch außer ihren Grenzen nicht so leicht
etwas Bedeutendes gefunden, sie standen einzig da und waren schon
insofern auf sich selbst gewiesen. Shakspeare aber schon entlehnte
seine Stoffe aus allen Zeiten und Regionen, Franzosen und Italiener
nicht minder, und so haben auch Göthe und Schiller nach dem ver¬
schiedenartigsten Material gegriffen. Unsre Sage ist dem Volksbe-
wußtsein größtentheils entfremdet und abgestorben, oder sie trägt einen
zu partikulären localen Charakter; mehr ausgebreitete, allenfalls noch
lebendige Zweige haben hier und da wohl zu dramatischer Bearbei¬
tung gereizt, doch haben auch diese sich nicht besonders günstig er¬
wiesen, die Versuche, mit Ausnahme des Faust, sind meist unglück¬
lich ausgefallen. Unsere vaterländische Geschichte vor der Re¬
formation scheint den heutigen Zuständen zu sern, die neuere und
neueste denselben zu nahe zu liegen. Aus der Reformationszeit hat
man mit Glück einige Stoffe herausgegriffen, und neuerdings ist
mehrmals auf diese Epoche, als eine für das Drama besonders er¬
giebige und reichhaltige, hingewiesen worden. NUn ist zwar das re¬
ligiöse Interesse nicht das Hauptinteresse unserer Zeit, so sehr man
es auch fast mit Gewalt wiederzubeleben sucht; alle Manifestationen
dieser Art sind nur galvanische Zuckungen. Dennoch dürfte der Ge¬
winn aus den Fundgruben jener Zeit größer sein, wenn nicht eben
mit ihr unsre Geschichte immer verworrener und zerrissener würde.
Später ist durch Friedrich den Großen noch einmal der Schwerpunkt
der Politik und des gesammten Lebens nach Deutschland gezogen
worden, und wie die Persönlichkeit jenes Mannes die ganze dama¬
lige Zeit bestimmt hat, so wäre sie wohl ein würdiger Gegenstand
für den größten Tragöden. Man hat aber eine eigenthümliche und
wohl nicht unbegründete, wenn auch noch nicht genügend erklärte
Scheu vor Stoffen aus der neueren und neuesten Geschichte, sei es,
weil man fühlt, daß das Kunstinteresse, wenn eS in seiner ganzen
Reinheit und Energie wirken soll, durch kein anderes gestört werden
darf; sei es, daß erst eine gewisse Entfernung den Individuen und


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Schiller und Göthe anstimmten; nirgends ein bestimmt gezogener,
fest geschlossener Kreis von allgemein bekannten, allgemein interessan¬
ten, wahrhaft populären, ich möchte sagen, durch den dichterischen
Volksgeist gezeitigten Stoffen. Die Griechen hatten einen solchen in
ihrer Heroensage, ihre Dramatiker waren selbst dem Stoffe nach
national. Freilich hätten sie auch außer ihren Grenzen nicht so leicht
etwas Bedeutendes gefunden, sie standen einzig da und waren schon
insofern auf sich selbst gewiesen. Shakspeare aber schon entlehnte
seine Stoffe aus allen Zeiten und Regionen, Franzosen und Italiener
nicht minder, und so haben auch Göthe und Schiller nach dem ver¬
schiedenartigsten Material gegriffen. Unsre Sage ist dem Volksbe-
wußtsein größtentheils entfremdet und abgestorben, oder sie trägt einen
zu partikulären localen Charakter; mehr ausgebreitete, allenfalls noch
lebendige Zweige haben hier und da wohl zu dramatischer Bearbei¬
tung gereizt, doch haben auch diese sich nicht besonders günstig er¬
wiesen, die Versuche, mit Ausnahme des Faust, sind meist unglück¬
lich ausgefallen. Unsere vaterländische Geschichte vor der Re¬
formation scheint den heutigen Zuständen zu sern, die neuere und
neueste denselben zu nahe zu liegen. Aus der Reformationszeit hat
man mit Glück einige Stoffe herausgegriffen, und neuerdings ist
mehrmals auf diese Epoche, als eine für das Drama besonders er¬
giebige und reichhaltige, hingewiesen worden. NUn ist zwar das re¬
ligiöse Interesse nicht das Hauptinteresse unserer Zeit, so sehr man
es auch fast mit Gewalt wiederzubeleben sucht; alle Manifestationen
dieser Art sind nur galvanische Zuckungen. Dennoch dürfte der Ge¬
winn aus den Fundgruben jener Zeit größer sein, wenn nicht eben
mit ihr unsre Geschichte immer verworrener und zerrissener würde.
Später ist durch Friedrich den Großen noch einmal der Schwerpunkt
der Politik und des gesammten Lebens nach Deutschland gezogen
worden, und wie die Persönlichkeit jenes Mannes die ganze dama¬
lige Zeit bestimmt hat, so wäre sie wohl ein würdiger Gegenstand
für den größten Tragöden. Man hat aber eine eigenthümliche und
wohl nicht unbegründete, wenn auch noch nicht genügend erklärte
Scheu vor Stoffen aus der neueren und neuesten Geschichte, sei es,
weil man fühlt, daß das Kunstinteresse, wenn eS in seiner ganzen
Reinheit und Energie wirken soll, durch kein anderes gestört werden
darf; sei es, daß erst eine gewisse Entfernung den Individuen und


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[0015] Schiller und Göthe anstimmten; nirgends ein bestimmt gezogener, fest geschlossener Kreis von allgemein bekannten, allgemein interessan¬ ten, wahrhaft populären, ich möchte sagen, durch den dichterischen Volksgeist gezeitigten Stoffen. Die Griechen hatten einen solchen in ihrer Heroensage, ihre Dramatiker waren selbst dem Stoffe nach national. Freilich hätten sie auch außer ihren Grenzen nicht so leicht etwas Bedeutendes gefunden, sie standen einzig da und waren schon insofern auf sich selbst gewiesen. Shakspeare aber schon entlehnte seine Stoffe aus allen Zeiten und Regionen, Franzosen und Italiener nicht minder, und so haben auch Göthe und Schiller nach dem ver¬ schiedenartigsten Material gegriffen. Unsre Sage ist dem Volksbe- wußtsein größtentheils entfremdet und abgestorben, oder sie trägt einen zu partikulären localen Charakter; mehr ausgebreitete, allenfalls noch lebendige Zweige haben hier und da wohl zu dramatischer Bearbei¬ tung gereizt, doch haben auch diese sich nicht besonders günstig er¬ wiesen, die Versuche, mit Ausnahme des Faust, sind meist unglück¬ lich ausgefallen. Unsere vaterländische Geschichte vor der Re¬ formation scheint den heutigen Zuständen zu sern, die neuere und neueste denselben zu nahe zu liegen. Aus der Reformationszeit hat man mit Glück einige Stoffe herausgegriffen, und neuerdings ist mehrmals auf diese Epoche, als eine für das Drama besonders er¬ giebige und reichhaltige, hingewiesen worden. NUn ist zwar das re¬ ligiöse Interesse nicht das Hauptinteresse unserer Zeit, so sehr man es auch fast mit Gewalt wiederzubeleben sucht; alle Manifestationen dieser Art sind nur galvanische Zuckungen. Dennoch dürfte der Ge¬ winn aus den Fundgruben jener Zeit größer sein, wenn nicht eben mit ihr unsre Geschichte immer verworrener und zerrissener würde. Später ist durch Friedrich den Großen noch einmal der Schwerpunkt der Politik und des gesammten Lebens nach Deutschland gezogen worden, und wie die Persönlichkeit jenes Mannes die ganze dama¬ lige Zeit bestimmt hat, so wäre sie wohl ein würdiger Gegenstand für den größten Tragöden. Man hat aber eine eigenthümliche und wohl nicht unbegründete, wenn auch noch nicht genügend erklärte Scheu vor Stoffen aus der neueren und neuesten Geschichte, sei es, weil man fühlt, daß das Kunstinteresse, wenn eS in seiner ganzen Reinheit und Energie wirken soll, durch kein anderes gestört werden darf; sei es, daß erst eine gewisse Entfernung den Individuen und 2---

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/15>, abgerufen am 05.12.2024.