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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band.

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deren Seite gehört nicht zu den besten Stücken des Euripides; be¬
urtheilt man sie günstiger, so läßt man sich bestechen durch die Ener¬
gie, mit der allerdings der eine weibliche Charakter gezeichnet ist
und vergißt darüber die Mängel in der Charakteristik der übrigen
Personen, so wie in der Composttion. -- Die delicate Frage aber
über Dauer und Lebenskraft einmal anerkannter Poesie, über ihr
Recht auf alle Zeiten und alle Zeitverhältnisse, diese Frage zu erle¬
digen, fühlte die junge Literatur sich nicht bewogen; sie schob dieselbe
frisch bei Seite und daran that sie, wenigstens für den Augenblick,
recht. Es ist zuweilen gut, nicht allzuzarte Rücksichten zu nehmen;
vor lauter Schonung dürfte man zuletzt nicht mehr treten und käme
keinen Schritt vorwärts. Jene Erperimente fielen in eine Zeit der
Entwickelung, die ein ""getheiltes Interesse verlangte, durch solche
Dinge aber zurückgehalten und gestört werden mußte. Man hat bei
den Berliner Versuchen an frühere ahnliche, die in Weimar gemacht
wurden, erinnert, wie man denn überhaupt den Berliner Poeten-,
Künstler- und Gelehrtencongreß und den Weimarischen Musenhof
coordiniren wollte. Letzteres durchaus unstatthaft. Das hieße, Ale-
randrien mit dem Athen des Perikles gleichstellen. Denn der Wei¬
marische Hof erkannte, pflegte und förderte junge, strebende, vollkräf-
tige Talente, wahrhafte Kinder der Zeit, was sich vom Berliner nicht
sagen läßt. Ersteres gleichfalls nicht sehr treffend. Denn bei so
großer, wahrhaft nationaler und zeitgemäßer Thätigkeit, wie die Wei¬
marischen Dichter für das Theater entwickelten, durfte man wohl ein
wenig Allotria treiben; in Berlin aber fing man mit den Allotrien
an und blieb dabei stehen. Dem gegenüber konnte die junge Litera¬
tur sich nicht gleichgiltig verhalten, und kränkte sie vielleicht hier und
da die Rechte der Poesie, so lag das in der Natur der Sache. Auch
sieht man es ihren eigenen Productionen an, daß sie zunächst weniger
das Interesse der Poesie, als die Eroberung der Bühne im Auge
hatte. -- Zur Antigone und Medea kam Shcckspeare's Sommer-
nachtstraum, von Tieck, mit Beibehaltung der altenglischen Büh¬
nenform, unter vielfachem Hin- und Herreden, nicht ohne Aufwand,
sehr fleißig und sorgfältig einstudirt und in Scene gesetzt. Hier schien
das Verhältniß doch ein anderes, als zu Sophokles und Euripides.
Shcckspeare war längst der unsere, man kann wohl sagen, so popu¬
lär, wie Schiller und Göthe; sein Sommernachtstraum, wenn auch


deren Seite gehört nicht zu den besten Stücken des Euripides; be¬
urtheilt man sie günstiger, so läßt man sich bestechen durch die Ener¬
gie, mit der allerdings der eine weibliche Charakter gezeichnet ist
und vergißt darüber die Mängel in der Charakteristik der übrigen
Personen, so wie in der Composttion. — Die delicate Frage aber
über Dauer und Lebenskraft einmal anerkannter Poesie, über ihr
Recht auf alle Zeiten und alle Zeitverhältnisse, diese Frage zu erle¬
digen, fühlte die junge Literatur sich nicht bewogen; sie schob dieselbe
frisch bei Seite und daran that sie, wenigstens für den Augenblick,
recht. Es ist zuweilen gut, nicht allzuzarte Rücksichten zu nehmen;
vor lauter Schonung dürfte man zuletzt nicht mehr treten und käme
keinen Schritt vorwärts. Jene Erperimente fielen in eine Zeit der
Entwickelung, die ein „»getheiltes Interesse verlangte, durch solche
Dinge aber zurückgehalten und gestört werden mußte. Man hat bei
den Berliner Versuchen an frühere ahnliche, die in Weimar gemacht
wurden, erinnert, wie man denn überhaupt den Berliner Poeten-,
Künstler- und Gelehrtencongreß und den Weimarischen Musenhof
coordiniren wollte. Letzteres durchaus unstatthaft. Das hieße, Ale-
randrien mit dem Athen des Perikles gleichstellen. Denn der Wei¬
marische Hof erkannte, pflegte und förderte junge, strebende, vollkräf-
tige Talente, wahrhafte Kinder der Zeit, was sich vom Berliner nicht
sagen läßt. Ersteres gleichfalls nicht sehr treffend. Denn bei so
großer, wahrhaft nationaler und zeitgemäßer Thätigkeit, wie die Wei¬
marischen Dichter für das Theater entwickelten, durfte man wohl ein
wenig Allotria treiben; in Berlin aber fing man mit den Allotrien
an und blieb dabei stehen. Dem gegenüber konnte die junge Litera¬
tur sich nicht gleichgiltig verhalten, und kränkte sie vielleicht hier und
da die Rechte der Poesie, so lag das in der Natur der Sache. Auch
sieht man es ihren eigenen Productionen an, daß sie zunächst weniger
das Interesse der Poesie, als die Eroberung der Bühne im Auge
hatte. — Zur Antigone und Medea kam Shcckspeare's Sommer-
nachtstraum, von Tieck, mit Beibehaltung der altenglischen Büh¬
nenform, unter vielfachem Hin- und Herreden, nicht ohne Aufwand,
sehr fleißig und sorgfältig einstudirt und in Scene gesetzt. Hier schien
das Verhältniß doch ein anderes, als zu Sophokles und Euripides.
Shcckspeare war längst der unsere, man kann wohl sagen, so popu¬
lär, wie Schiller und Göthe; sein Sommernachtstraum, wenn auch


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[0011] deren Seite gehört nicht zu den besten Stücken des Euripides; be¬ urtheilt man sie günstiger, so läßt man sich bestechen durch die Ener¬ gie, mit der allerdings der eine weibliche Charakter gezeichnet ist und vergißt darüber die Mängel in der Charakteristik der übrigen Personen, so wie in der Composttion. — Die delicate Frage aber über Dauer und Lebenskraft einmal anerkannter Poesie, über ihr Recht auf alle Zeiten und alle Zeitverhältnisse, diese Frage zu erle¬ digen, fühlte die junge Literatur sich nicht bewogen; sie schob dieselbe frisch bei Seite und daran that sie, wenigstens für den Augenblick, recht. Es ist zuweilen gut, nicht allzuzarte Rücksichten zu nehmen; vor lauter Schonung dürfte man zuletzt nicht mehr treten und käme keinen Schritt vorwärts. Jene Erperimente fielen in eine Zeit der Entwickelung, die ein „»getheiltes Interesse verlangte, durch solche Dinge aber zurückgehalten und gestört werden mußte. Man hat bei den Berliner Versuchen an frühere ahnliche, die in Weimar gemacht wurden, erinnert, wie man denn überhaupt den Berliner Poeten-, Künstler- und Gelehrtencongreß und den Weimarischen Musenhof coordiniren wollte. Letzteres durchaus unstatthaft. Das hieße, Ale- randrien mit dem Athen des Perikles gleichstellen. Denn der Wei¬ marische Hof erkannte, pflegte und förderte junge, strebende, vollkräf- tige Talente, wahrhafte Kinder der Zeit, was sich vom Berliner nicht sagen läßt. Ersteres gleichfalls nicht sehr treffend. Denn bei so großer, wahrhaft nationaler und zeitgemäßer Thätigkeit, wie die Wei¬ marischen Dichter für das Theater entwickelten, durfte man wohl ein wenig Allotria treiben; in Berlin aber fing man mit den Allotrien an und blieb dabei stehen. Dem gegenüber konnte die junge Litera¬ tur sich nicht gleichgiltig verhalten, und kränkte sie vielleicht hier und da die Rechte der Poesie, so lag das in der Natur der Sache. Auch sieht man es ihren eigenen Productionen an, daß sie zunächst weniger das Interesse der Poesie, als die Eroberung der Bühne im Auge hatte. — Zur Antigone und Medea kam Shcckspeare's Sommer- nachtstraum, von Tieck, mit Beibehaltung der altenglischen Büh¬ nenform, unter vielfachem Hin- und Herreden, nicht ohne Aufwand, sehr fleißig und sorgfältig einstudirt und in Scene gesetzt. Hier schien das Verhältniß doch ein anderes, als zu Sophokles und Euripides. Shcckspeare war längst der unsere, man kann wohl sagen, so popu¬ lär, wie Schiller und Göthe; sein Sommernachtstraum, wenn auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_341790/11>, abgerufen am 27.07.2024.