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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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wirklicher Gefangenkost leben muß (auch seine meist dumpfe Behau¬
sung unterscheidet sich nicht eben vortheilhaft von einem Gefängniß),
nährt sich der Aermere in München von kräftigem Brod und einigen
Maaß jenes köstlichen Bieres, welches, um einmal groß zu sprechen,
Shakspeare'sche (oder michelangelo'sche) Kraft mit goede'scher (oder
raphaelischer) Milde, dramatischen Effect mit epischer Behaglichkeit
verbindet und in den goldenen Perlen und Wolken, die darin auf-
und niedersteigen, wie in dem Schaumkranz, welcher seinen Scheitel
wie ein Heiligenschein ziert und verklärt, selbst einen lyrisch schwär¬
merischen Charakter entwickelt; ja es würde mir sogar nicht schwer
fallen, bei einiger Anstrengung meiner Seelenkräfte aus diesem Ge¬
tränk den constructiver Charakter sowohl der griechischen wie der
gothischen Architektur nachzuweisen, was gewiß die aschgraue Mög¬
lichkeit wäre. -- Noch bemerke ich, daß sich das Bier gerade an den
vorzugsweise von den ärmeren Classen besuchten Orten durch seine
Vortrefflichkeit auszeichnet, während es das Vorrecht der Erclusiven
zu sein scheint, an den von ihnen vorzugsweise besuchten öffentlichen
Orten ein minder gutes, selbst mittelmäßiges Bier trinken zu müssen.
Natürlich wollen die Crclusiven, da hier einmal selten ein anderes
Getränk gefordert wird, doch etwas, d. h. eine schlechtere Sorte Bier
vor dem Pöbel voraus haben. Welche Begriffe von dem schlechten
Geschmack der erclusiven Gesellschaft mag mancher arme Teufel er¬
halten, der zufällig an einen solchen vornehmen Ort geräth!

Indeß glaube man nicht, daß hier die Demarcationslinie zwi¬
schen Hoch und Gering eben so entschieden ist, als in den norddeut¬
schen Militär- und Beamtenstaaten; es mischt sich hier Alles viel
menschlicher, und die verschiedenen Stände lausen an öffentlichen Or¬
ten eben so leicht zusammen, wie die Milch während eines Gewitters.
Es gibt zwar auch hier eine Crome; doch tritt sie öffentlich nicht so
grell, noch mit so schneidenden und verletzenden Ansprüchen hervor, als
anderwärts, obgleich freilich in Privatkreisen die aristokratischen My¬
sterien in nicht minder vornehmer und erclusiver Weise gefeiert wer-
.den, als in allen übrigen europäischen Residenzstädten; wie man über¬
haupt wahrnehmen will, daß sich auch hier das Familienleben in
norddeutscher Art mehr in sich selbst zurückzieht als früher. Es be¬
finden sich hier verhältnißmäßig wohl nur wenige Orte, welche der
Anständige ganz zu meiden hätte. Wo ein renommirtes gutes Bier


wirklicher Gefangenkost leben muß (auch seine meist dumpfe Behau¬
sung unterscheidet sich nicht eben vortheilhaft von einem Gefängniß),
nährt sich der Aermere in München von kräftigem Brod und einigen
Maaß jenes köstlichen Bieres, welches, um einmal groß zu sprechen,
Shakspeare'sche (oder michelangelo'sche) Kraft mit goede'scher (oder
raphaelischer) Milde, dramatischen Effect mit epischer Behaglichkeit
verbindet und in den goldenen Perlen und Wolken, die darin auf-
und niedersteigen, wie in dem Schaumkranz, welcher seinen Scheitel
wie ein Heiligenschein ziert und verklärt, selbst einen lyrisch schwär¬
merischen Charakter entwickelt; ja es würde mir sogar nicht schwer
fallen, bei einiger Anstrengung meiner Seelenkräfte aus diesem Ge¬
tränk den constructiver Charakter sowohl der griechischen wie der
gothischen Architektur nachzuweisen, was gewiß die aschgraue Mög¬
lichkeit wäre. — Noch bemerke ich, daß sich das Bier gerade an den
vorzugsweise von den ärmeren Classen besuchten Orten durch seine
Vortrefflichkeit auszeichnet, während es das Vorrecht der Erclusiven
zu sein scheint, an den von ihnen vorzugsweise besuchten öffentlichen
Orten ein minder gutes, selbst mittelmäßiges Bier trinken zu müssen.
Natürlich wollen die Crclusiven, da hier einmal selten ein anderes
Getränk gefordert wird, doch etwas, d. h. eine schlechtere Sorte Bier
vor dem Pöbel voraus haben. Welche Begriffe von dem schlechten
Geschmack der erclusiven Gesellschaft mag mancher arme Teufel er¬
halten, der zufällig an einen solchen vornehmen Ort geräth!

Indeß glaube man nicht, daß hier die Demarcationslinie zwi¬
schen Hoch und Gering eben so entschieden ist, als in den norddeut¬
schen Militär- und Beamtenstaaten; es mischt sich hier Alles viel
menschlicher, und die verschiedenen Stände lausen an öffentlichen Or¬
ten eben so leicht zusammen, wie die Milch während eines Gewitters.
Es gibt zwar auch hier eine Crome; doch tritt sie öffentlich nicht so
grell, noch mit so schneidenden und verletzenden Ansprüchen hervor, als
anderwärts, obgleich freilich in Privatkreisen die aristokratischen My¬
sterien in nicht minder vornehmer und erclusiver Weise gefeiert wer-
.den, als in allen übrigen europäischen Residenzstädten; wie man über¬
haupt wahrnehmen will, daß sich auch hier das Familienleben in
norddeutscher Art mehr in sich selbst zurückzieht als früher. Es be¬
finden sich hier verhältnißmäßig wohl nur wenige Orte, welche der
Anständige ganz zu meiden hätte. Wo ein renommirtes gutes Bier


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[0494] wirklicher Gefangenkost leben muß (auch seine meist dumpfe Behau¬ sung unterscheidet sich nicht eben vortheilhaft von einem Gefängniß), nährt sich der Aermere in München von kräftigem Brod und einigen Maaß jenes köstlichen Bieres, welches, um einmal groß zu sprechen, Shakspeare'sche (oder michelangelo'sche) Kraft mit goede'scher (oder raphaelischer) Milde, dramatischen Effect mit epischer Behaglichkeit verbindet und in den goldenen Perlen und Wolken, die darin auf- und niedersteigen, wie in dem Schaumkranz, welcher seinen Scheitel wie ein Heiligenschein ziert und verklärt, selbst einen lyrisch schwär¬ merischen Charakter entwickelt; ja es würde mir sogar nicht schwer fallen, bei einiger Anstrengung meiner Seelenkräfte aus diesem Ge¬ tränk den constructiver Charakter sowohl der griechischen wie der gothischen Architektur nachzuweisen, was gewiß die aschgraue Mög¬ lichkeit wäre. — Noch bemerke ich, daß sich das Bier gerade an den vorzugsweise von den ärmeren Classen besuchten Orten durch seine Vortrefflichkeit auszeichnet, während es das Vorrecht der Erclusiven zu sein scheint, an den von ihnen vorzugsweise besuchten öffentlichen Orten ein minder gutes, selbst mittelmäßiges Bier trinken zu müssen. Natürlich wollen die Crclusiven, da hier einmal selten ein anderes Getränk gefordert wird, doch etwas, d. h. eine schlechtere Sorte Bier vor dem Pöbel voraus haben. Welche Begriffe von dem schlechten Geschmack der erclusiven Gesellschaft mag mancher arme Teufel er¬ halten, der zufällig an einen solchen vornehmen Ort geräth! Indeß glaube man nicht, daß hier die Demarcationslinie zwi¬ schen Hoch und Gering eben so entschieden ist, als in den norddeut¬ schen Militär- und Beamtenstaaten; es mischt sich hier Alles viel menschlicher, und die verschiedenen Stände lausen an öffentlichen Or¬ ten eben so leicht zusammen, wie die Milch während eines Gewitters. Es gibt zwar auch hier eine Crome; doch tritt sie öffentlich nicht so grell, noch mit so schneidenden und verletzenden Ansprüchen hervor, als anderwärts, obgleich freilich in Privatkreisen die aristokratischen My¬ sterien in nicht minder vornehmer und erclusiver Weise gefeiert wer- .den, als in allen übrigen europäischen Residenzstädten; wie man über¬ haupt wahrnehmen will, daß sich auch hier das Familienleben in norddeutscher Art mehr in sich selbst zurückzieht als früher. Es be¬ finden sich hier verhältnißmäßig wohl nur wenige Orte, welche der Anständige ganz zu meiden hätte. Wo ein renommirtes gutes Bier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/494>, abgerufen am 23.12.2024.