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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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der Vlasirtheit unserer Bildung liegt es, nicht an dem allgemeinen
Mangel an Muth und Aufopferungslust, daß wir keine rechten Blut¬
zeugen für die modernen Ideen haben, sondern nur an der rechten
Gelegenheit, an dem rechten Widerstand. All' die Polizeien und
Kanzleien mit ihren Untersuchungsapparaten und Maßregelungen sind
selber halb und halb aufgeklärt, sie haben keine Consequenz und keine
Ueberzeugung und spielen wie die Katze mit der Maus, ohne den
Muth, etwas zur Entscheidung zu bringen. Die Nhedaer reden, wie's
ihnen um's Herz ist, und thun, wie sie reden. Wäre das, was die
servilen Zeitungen vom deutschen Volke sagen, wahr, so, müßte es
überall Scenen geben, wie dort. Könnten aber die ehrlichen West-
phalen mit einem Mal all die Aufklärung und politische Bildung sich
eintrichtern, die in anderen Gegenden herrscht, sie würden sich nach
der entgegengesetzten Seite hin gerade so benehmen und vielleicht vor
anderen Fenstern rufen: "Heraus mit dem Spion! Heraus mit dem
Heuchler! Heraus mit dem Speichellecker! ?c.

-- In Nürnberg lebt ein Mann und Bibliothekar, Namens
Ol. Ghillany, der seit Jahren in dicken und dünnen Büchern den
Beweis führt, daß die Juden wirklich Menschenfresser sind und stets
bis heut zu Tage das Blut von Christenkindern zu ihrem Osterbrode
brauchten. Er führt seine Beweise gründlich und wissenschaftlich, durch
Citate aus Eisenmenger, aus alten Scharteken aus den Zeiten des
finstersten Judenhasses, und endlich aus -- der Bibel, die er mit
den unglaublichsten Verdrehungen nothzüchtigt. Leider ist er so un¬
glücklich, keine allgemeine e u roy al sah e Judenunt e r su ebur g ver¬
anlassen zu können. In kleineren Kreisen mag er indeß glücklicher
sein. Vor einiger Zeit erhielt er von einem armen jüdischen Hau-
sirer, dem vielleicht von Pastoren, Schulmeistern und Bauern mit
Ghillany's wissenschaftlichen Resultaten etwas hart zugesetzt wurde,
einen anonymen Schmahbrief. Darauf erklärte Ghillany in der
"Dorfzeitung", daß es ihm um der Juden willen Leid thun würde,
wenn er sich genöthigt sehen sollte, den erwähnten Schmäh¬
brief zu veröffentlichen. Denn dann würde die Welt erst
sehen, was die Juden für ein Volk seien und was Einer
riskire, der ihnen "wissenschaftlich" die Wahrheit sage. -- Wahrschein¬
lich ist also ein Bischen Menschenfressen noch gar nicht so arg, denn
das weiß ja die Welt schon von den Juden. Aber ein Schmähbrief
an 0,-. Ghillany! Das freilich übersteigt alle Grenzen.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. -- Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrä.

der Vlasirtheit unserer Bildung liegt es, nicht an dem allgemeinen
Mangel an Muth und Aufopferungslust, daß wir keine rechten Blut¬
zeugen für die modernen Ideen haben, sondern nur an der rechten
Gelegenheit, an dem rechten Widerstand. All' die Polizeien und
Kanzleien mit ihren Untersuchungsapparaten und Maßregelungen sind
selber halb und halb aufgeklärt, sie haben keine Consequenz und keine
Ueberzeugung und spielen wie die Katze mit der Maus, ohne den
Muth, etwas zur Entscheidung zu bringen. Die Nhedaer reden, wie's
ihnen um's Herz ist, und thun, wie sie reden. Wäre das, was die
servilen Zeitungen vom deutschen Volke sagen, wahr, so, müßte es
überall Scenen geben, wie dort. Könnten aber die ehrlichen West-
phalen mit einem Mal all die Aufklärung und politische Bildung sich
eintrichtern, die in anderen Gegenden herrscht, sie würden sich nach
der entgegengesetzten Seite hin gerade so benehmen und vielleicht vor
anderen Fenstern rufen: „Heraus mit dem Spion! Heraus mit dem
Heuchler! Heraus mit dem Speichellecker! ?c.

— In Nürnberg lebt ein Mann und Bibliothekar, Namens
Ol. Ghillany, der seit Jahren in dicken und dünnen Büchern den
Beweis führt, daß die Juden wirklich Menschenfresser sind und stets
bis heut zu Tage das Blut von Christenkindern zu ihrem Osterbrode
brauchten. Er führt seine Beweise gründlich und wissenschaftlich, durch
Citate aus Eisenmenger, aus alten Scharteken aus den Zeiten des
finstersten Judenhasses, und endlich aus — der Bibel, die er mit
den unglaublichsten Verdrehungen nothzüchtigt. Leider ist er so un¬
glücklich, keine allgemeine e u roy al sah e Judenunt e r su ebur g ver¬
anlassen zu können. In kleineren Kreisen mag er indeß glücklicher
sein. Vor einiger Zeit erhielt er von einem armen jüdischen Hau-
sirer, dem vielleicht von Pastoren, Schulmeistern und Bauern mit
Ghillany's wissenschaftlichen Resultaten etwas hart zugesetzt wurde,
einen anonymen Schmahbrief. Darauf erklärte Ghillany in der
„Dorfzeitung", daß es ihm um der Juden willen Leid thun würde,
wenn er sich genöthigt sehen sollte, den erwähnten Schmäh¬
brief zu veröffentlichen. Denn dann würde die Welt erst
sehen, was die Juden für ein Volk seien und was Einer
riskire, der ihnen „wissenschaftlich" die Wahrheit sage. — Wahrschein¬
lich ist also ein Bischen Menschenfressen noch gar nicht so arg, denn
das weiß ja die Welt schon von den Juden. Aber ein Schmähbrief
an 0,-. Ghillany! Das freilich übersteigt alle Grenzen.




Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda.
Druck von Friedrich Andrä.
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[0440] der Vlasirtheit unserer Bildung liegt es, nicht an dem allgemeinen Mangel an Muth und Aufopferungslust, daß wir keine rechten Blut¬ zeugen für die modernen Ideen haben, sondern nur an der rechten Gelegenheit, an dem rechten Widerstand. All' die Polizeien und Kanzleien mit ihren Untersuchungsapparaten und Maßregelungen sind selber halb und halb aufgeklärt, sie haben keine Consequenz und keine Ueberzeugung und spielen wie die Katze mit der Maus, ohne den Muth, etwas zur Entscheidung zu bringen. Die Nhedaer reden, wie's ihnen um's Herz ist, und thun, wie sie reden. Wäre das, was die servilen Zeitungen vom deutschen Volke sagen, wahr, so, müßte es überall Scenen geben, wie dort. Könnten aber die ehrlichen West- phalen mit einem Mal all die Aufklärung und politische Bildung sich eintrichtern, die in anderen Gegenden herrscht, sie würden sich nach der entgegengesetzten Seite hin gerade so benehmen und vielleicht vor anderen Fenstern rufen: „Heraus mit dem Spion! Heraus mit dem Heuchler! Heraus mit dem Speichellecker! ?c. — In Nürnberg lebt ein Mann und Bibliothekar, Namens Ol. Ghillany, der seit Jahren in dicken und dünnen Büchern den Beweis führt, daß die Juden wirklich Menschenfresser sind und stets bis heut zu Tage das Blut von Christenkindern zu ihrem Osterbrode brauchten. Er führt seine Beweise gründlich und wissenschaftlich, durch Citate aus Eisenmenger, aus alten Scharteken aus den Zeiten des finstersten Judenhasses, und endlich aus — der Bibel, die er mit den unglaublichsten Verdrehungen nothzüchtigt. Leider ist er so un¬ glücklich, keine allgemeine e u roy al sah e Judenunt e r su ebur g ver¬ anlassen zu können. In kleineren Kreisen mag er indeß glücklicher sein. Vor einiger Zeit erhielt er von einem armen jüdischen Hau- sirer, dem vielleicht von Pastoren, Schulmeistern und Bauern mit Ghillany's wissenschaftlichen Resultaten etwas hart zugesetzt wurde, einen anonymen Schmahbrief. Darauf erklärte Ghillany in der „Dorfzeitung", daß es ihm um der Juden willen Leid thun würde, wenn er sich genöthigt sehen sollte, den erwähnten Schmäh¬ brief zu veröffentlichen. Denn dann würde die Welt erst sehen, was die Juden für ein Volk seien und was Einer riskire, der ihnen „wissenschaftlich" die Wahrheit sage. — Wahrschein¬ lich ist also ein Bischen Menschenfressen noch gar nicht so arg, denn das weiß ja die Welt schon von den Juden. Aber ein Schmähbrief an 0,-. Ghillany! Das freilich übersteigt alle Grenzen. Verlag von Fr. Ludw. Herbig. — Redacteur I. Kuranda. Druck von Friedrich Andrä.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/440>, abgerufen am 22.12.2024.