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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Wer gefällt dein Leser am meisten, die "illustre" Madame,
oder Madame de Mortsauf? Ich meines - Theils muß gestehen,
daß "zwischen Beiden mein Herz schwankt," d. h. daß sie mir beide
aus verschiedenen Gründen mißfallen. Das erste Porträt ist das
Porträt einer Kunst, die sich noch in ihrer ersten Kindheit befindet,
von einem decorationsmäßigen Colorit, ohne Nuancen, ohne Leichtig¬
keit und von wenig Wahrheit. Das zweite zeigt die nach seltsamen
und Fantastischem haschende Anstrengung einer gealterten und blasi"
ten Literatur; es ist anspruchsvoll, manierirt, verschnörkelt und natur¬
widrig. Dennoch gibt es Leute, die bei solchen Entdeckungen vor
Bewunderung außer sich gerathen und ausrufen: Wie tief weiß Bal¬
zac zu analysiren! Uns aber ist es nur ein Zeugniß, wie ein so
trefflich begabter Schriftsteller den gesunden Menschenverstand mi߬
handelt und die Sprache verrenkt. Liest man Balzac's Werke mit
ruhiger Ueberlegung, läßt man sich nicht hinreißen von einer oft mit
schlagender Kraft und Wahrheit ausgestatteten Conception, so erstaunt
man über die unglaubliche Freiheit, die er sich erlaubt; viele Seiten
sind ein Muster von barockem und verschnörkelten Styl. Da findet
man lange, schleppende, schlechtverbundene Perioden, die, gespickt mit
bizarren Neologismen, den Gedanken nicht deutlicher, sondern unver¬
ständlicher machen; Metaphern, bei denen Einem die Haare zu
Berge stehen; Bilder, in denen man alle drei Reiche der Natur ge¬
plündert und zusammengeschmiedet findet. Dazu muß man bedenken,
daß diese Sünden mit dem erschwerenden Umstand des Vorbedachts
begangen werden. Nichts hat weniger mit Nachlässigkeit zu thun,
als Balzac's Styl ; sein Ruf als Corrector ist in den Druckereien
sprichwörtlich geworden; nur um nicht einfach zu sein, impft er sich
selbst ein schreckliches Uebel ein; er nennt das "sich mit der Sprache
herumschlagen;" könnte er nicht eben so gut mit ihr in gutem Ein-
verständniß leben?

Und doch, ich wiederhole es, ist Balzac einer der Männer, die
vom Himmel die heilige Flamme der Poesie empfangen haben,
und ich selbst, der ich ihn tadle, weil ich ihn bewundere, wie oft hat
mich der Tag erst erinnert, daß ich den Schlummer über einem sei¬
ner Bücher, das ich am Abend vorher begonnen, vergessen hatte! Er
gibt uns Gedanken, die bis in die geheimsten Tiefen der Seele nach-


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Wer gefällt dein Leser am meisten, die „illustre" Madame,
oder Madame de Mortsauf? Ich meines - Theils muß gestehen,
daß „zwischen Beiden mein Herz schwankt," d. h. daß sie mir beide
aus verschiedenen Gründen mißfallen. Das erste Porträt ist das
Porträt einer Kunst, die sich noch in ihrer ersten Kindheit befindet,
von einem decorationsmäßigen Colorit, ohne Nuancen, ohne Leichtig¬
keit und von wenig Wahrheit. Das zweite zeigt die nach seltsamen
und Fantastischem haschende Anstrengung einer gealterten und blasi»
ten Literatur; es ist anspruchsvoll, manierirt, verschnörkelt und natur¬
widrig. Dennoch gibt es Leute, die bei solchen Entdeckungen vor
Bewunderung außer sich gerathen und ausrufen: Wie tief weiß Bal¬
zac zu analysiren! Uns aber ist es nur ein Zeugniß, wie ein so
trefflich begabter Schriftsteller den gesunden Menschenverstand mi߬
handelt und die Sprache verrenkt. Liest man Balzac's Werke mit
ruhiger Ueberlegung, läßt man sich nicht hinreißen von einer oft mit
schlagender Kraft und Wahrheit ausgestatteten Conception, so erstaunt
man über die unglaubliche Freiheit, die er sich erlaubt; viele Seiten
sind ein Muster von barockem und verschnörkelten Styl. Da findet
man lange, schleppende, schlechtverbundene Perioden, die, gespickt mit
bizarren Neologismen, den Gedanken nicht deutlicher, sondern unver¬
ständlicher machen; Metaphern, bei denen Einem die Haare zu
Berge stehen; Bilder, in denen man alle drei Reiche der Natur ge¬
plündert und zusammengeschmiedet findet. Dazu muß man bedenken,
daß diese Sünden mit dem erschwerenden Umstand des Vorbedachts
begangen werden. Nichts hat weniger mit Nachlässigkeit zu thun,
als Balzac's Styl ; sein Ruf als Corrector ist in den Druckereien
sprichwörtlich geworden; nur um nicht einfach zu sein, impft er sich
selbst ein schreckliches Uebel ein; er nennt das „sich mit der Sprache
herumschlagen;" könnte er nicht eben so gut mit ihr in gutem Ein-
verständniß leben?

Und doch, ich wiederhole es, ist Balzac einer der Männer, die
vom Himmel die heilige Flamme der Poesie empfangen haben,
und ich selbst, der ich ihn tadle, weil ich ihn bewundere, wie oft hat
mich der Tag erst erinnert, daß ich den Schlummer über einem sei¬
ner Bücher, das ich am Abend vorher begonnen, vergessen hatte! Er
gibt uns Gedanken, die bis in die geheimsten Tiefen der Seele nach-


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[0035] Wer gefällt dein Leser am meisten, die „illustre" Madame, oder Madame de Mortsauf? Ich meines - Theils muß gestehen, daß „zwischen Beiden mein Herz schwankt," d. h. daß sie mir beide aus verschiedenen Gründen mißfallen. Das erste Porträt ist das Porträt einer Kunst, die sich noch in ihrer ersten Kindheit befindet, von einem decorationsmäßigen Colorit, ohne Nuancen, ohne Leichtig¬ keit und von wenig Wahrheit. Das zweite zeigt die nach seltsamen und Fantastischem haschende Anstrengung einer gealterten und blasi» ten Literatur; es ist anspruchsvoll, manierirt, verschnörkelt und natur¬ widrig. Dennoch gibt es Leute, die bei solchen Entdeckungen vor Bewunderung außer sich gerathen und ausrufen: Wie tief weiß Bal¬ zac zu analysiren! Uns aber ist es nur ein Zeugniß, wie ein so trefflich begabter Schriftsteller den gesunden Menschenverstand mi߬ handelt und die Sprache verrenkt. Liest man Balzac's Werke mit ruhiger Ueberlegung, läßt man sich nicht hinreißen von einer oft mit schlagender Kraft und Wahrheit ausgestatteten Conception, so erstaunt man über die unglaubliche Freiheit, die er sich erlaubt; viele Seiten sind ein Muster von barockem und verschnörkelten Styl. Da findet man lange, schleppende, schlechtverbundene Perioden, die, gespickt mit bizarren Neologismen, den Gedanken nicht deutlicher, sondern unver¬ ständlicher machen; Metaphern, bei denen Einem die Haare zu Berge stehen; Bilder, in denen man alle drei Reiche der Natur ge¬ plündert und zusammengeschmiedet findet. Dazu muß man bedenken, daß diese Sünden mit dem erschwerenden Umstand des Vorbedachts begangen werden. Nichts hat weniger mit Nachlässigkeit zu thun, als Balzac's Styl ; sein Ruf als Corrector ist in den Druckereien sprichwörtlich geworden; nur um nicht einfach zu sein, impft er sich selbst ein schreckliches Uebel ein; er nennt das „sich mit der Sprache herumschlagen;" könnte er nicht eben so gut mit ihr in gutem Ein- verständniß leben? Und doch, ich wiederhole es, ist Balzac einer der Männer, die vom Himmel die heilige Flamme der Poesie empfangen haben, und ich selbst, der ich ihn tadle, weil ich ihn bewundere, wie oft hat mich der Tag erst erinnert, daß ich den Schlummer über einem sei¬ ner Bücher, das ich am Abend vorher begonnen, vergessen hatte! Er gibt uns Gedanken, die bis in die geheimsten Tiefen der Seele nach- 4 »

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/35>, abgerufen am 22.12.2024.