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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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fahren, denn wenn man etwas wünschte, war man darauf ange¬
wiesen, die Klingel zu ziehen, und sogleich erschien auch der dienende
Geist in der Person des ältesten, sehr pfiffigen und gewandten Kna¬
ben. Man ist in Berlin nicht neugierig auf seine Hausgenossen und
lernt sie gewöhnlich gar nicht kennen; oft weiß man Monate lang
nicht einmal den Namen des allernächsten Nachbars, wenn man
nicht zufällig seine Bekanntschaft macht. Selbst in diesem engen
Häuschen hatte ich bis zum vierten oder fünften Abend noch Keinen
von ihnen gesehen. An diesem kam ich etwas später als gewöhnlich
nach Hause lind setzte mich eben auf das Sopha, um die vorgefun¬
dene Zeitung noch zu lesen, als ich auf dem Hausflur ziemlich laut
sprechen hörte. Da auf der Straße schon die Todtenstille der Ber¬
liner Nacht herrschte, konnte ich deutlich eine etwas rauhe, weibliche
Stimme unterscheiden, die in abgebrochenen unverständlichen Sätzen,
Worten und Ausrufungen mit sich selber sprach. Die Stimme kam
immer näher und näher, und als ich, um in meiner begonnenen Lec-
türe mich nicht stören zu lassen, meine Thür verriegeln wollte, wurde
draußen leise angepocht. Wer da so spät? rief ich. -- Können Sie
mir nicht etwas Licht geben? war die Antwort. Ich öffnete und
wer beschreibt mein Erstaunen: vor mir stand ein langes hageres
Weib mit verdrehten Augen, todtenbleichen Gesicht und glühend¬
rother Nase, das lange graue Haar wild und verworren über das
schmutzige Hemd herabhängend, das ihre einzige Bekleidung aus¬
machte. Ich nahm ihr schnell das Licht aus der Hand, es an dem
meinigen anzuzünden, doch ehe ich mich umdrehte, hatte sie sich schon
durch die kleine Oeffnung, die ich an der Thür gelassen hatte, hin¬
durchgedrängt, machte letztere behutsam wieder zu und war nun im
Zimmer. Sein Sie ganz still, sagte sie, die Leute dürfen nicht
hören, daß ich bei Ihnen bin. Ich komme eigentlich, Sie zu war¬
nen. Sie sind in ein abscheuliches Haus gerathen, Sie können hier
nicht wohnen bleiben. In diesem Hause gehen alle möglichen
Schlechtheiten und Gemeinheiten vor, die Wirthsleute beherbergen
allerlei liederliches Gesindel, Spitzbuben und Frauenzimmer und schin¬
den und betrügen, daß es eine Freude ist. Da oben im obersten
Hinterstübchen wohnt ein alter Weißkopf, mit dem stehen sie im
Bunde. Denken Sie sich, dieser alte Kerl sitzt den ganzen langen
Tag da oben allein in der engen Cajüte, kein Mensch kennt ihn,


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fahren, denn wenn man etwas wünschte, war man darauf ange¬
wiesen, die Klingel zu ziehen, und sogleich erschien auch der dienende
Geist in der Person des ältesten, sehr pfiffigen und gewandten Kna¬
ben. Man ist in Berlin nicht neugierig auf seine Hausgenossen und
lernt sie gewöhnlich gar nicht kennen; oft weiß man Monate lang
nicht einmal den Namen des allernächsten Nachbars, wenn man
nicht zufällig seine Bekanntschaft macht. Selbst in diesem engen
Häuschen hatte ich bis zum vierten oder fünften Abend noch Keinen
von ihnen gesehen. An diesem kam ich etwas später als gewöhnlich
nach Hause lind setzte mich eben auf das Sopha, um die vorgefun¬
dene Zeitung noch zu lesen, als ich auf dem Hausflur ziemlich laut
sprechen hörte. Da auf der Straße schon die Todtenstille der Ber¬
liner Nacht herrschte, konnte ich deutlich eine etwas rauhe, weibliche
Stimme unterscheiden, die in abgebrochenen unverständlichen Sätzen,
Worten und Ausrufungen mit sich selber sprach. Die Stimme kam
immer näher und näher, und als ich, um in meiner begonnenen Lec-
türe mich nicht stören zu lassen, meine Thür verriegeln wollte, wurde
draußen leise angepocht. Wer da so spät? rief ich. — Können Sie
mir nicht etwas Licht geben? war die Antwort. Ich öffnete und
wer beschreibt mein Erstaunen: vor mir stand ein langes hageres
Weib mit verdrehten Augen, todtenbleichen Gesicht und glühend¬
rother Nase, das lange graue Haar wild und verworren über das
schmutzige Hemd herabhängend, das ihre einzige Bekleidung aus¬
machte. Ich nahm ihr schnell das Licht aus der Hand, es an dem
meinigen anzuzünden, doch ehe ich mich umdrehte, hatte sie sich schon
durch die kleine Oeffnung, die ich an der Thür gelassen hatte, hin¬
durchgedrängt, machte letztere behutsam wieder zu und war nun im
Zimmer. Sein Sie ganz still, sagte sie, die Leute dürfen nicht
hören, daß ich bei Ihnen bin. Ich komme eigentlich, Sie zu war¬
nen. Sie sind in ein abscheuliches Haus gerathen, Sie können hier
nicht wohnen bleiben. In diesem Hause gehen alle möglichen
Schlechtheiten und Gemeinheiten vor, die Wirthsleute beherbergen
allerlei liederliches Gesindel, Spitzbuben und Frauenzimmer und schin¬
den und betrügen, daß es eine Freude ist. Da oben im obersten
Hinterstübchen wohnt ein alter Weißkopf, mit dem stehen sie im
Bunde. Denken Sie sich, dieser alte Kerl sitzt den ganzen langen
Tag da oben allein in der engen Cajüte, kein Mensch kennt ihn,


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[0347] fahren, denn wenn man etwas wünschte, war man darauf ange¬ wiesen, die Klingel zu ziehen, und sogleich erschien auch der dienende Geist in der Person des ältesten, sehr pfiffigen und gewandten Kna¬ ben. Man ist in Berlin nicht neugierig auf seine Hausgenossen und lernt sie gewöhnlich gar nicht kennen; oft weiß man Monate lang nicht einmal den Namen des allernächsten Nachbars, wenn man nicht zufällig seine Bekanntschaft macht. Selbst in diesem engen Häuschen hatte ich bis zum vierten oder fünften Abend noch Keinen von ihnen gesehen. An diesem kam ich etwas später als gewöhnlich nach Hause lind setzte mich eben auf das Sopha, um die vorgefun¬ dene Zeitung noch zu lesen, als ich auf dem Hausflur ziemlich laut sprechen hörte. Da auf der Straße schon die Todtenstille der Ber¬ liner Nacht herrschte, konnte ich deutlich eine etwas rauhe, weibliche Stimme unterscheiden, die in abgebrochenen unverständlichen Sätzen, Worten und Ausrufungen mit sich selber sprach. Die Stimme kam immer näher und näher, und als ich, um in meiner begonnenen Lec- türe mich nicht stören zu lassen, meine Thür verriegeln wollte, wurde draußen leise angepocht. Wer da so spät? rief ich. — Können Sie mir nicht etwas Licht geben? war die Antwort. Ich öffnete und wer beschreibt mein Erstaunen: vor mir stand ein langes hageres Weib mit verdrehten Augen, todtenbleichen Gesicht und glühend¬ rother Nase, das lange graue Haar wild und verworren über das schmutzige Hemd herabhängend, das ihre einzige Bekleidung aus¬ machte. Ich nahm ihr schnell das Licht aus der Hand, es an dem meinigen anzuzünden, doch ehe ich mich umdrehte, hatte sie sich schon durch die kleine Oeffnung, die ich an der Thür gelassen hatte, hin¬ durchgedrängt, machte letztere behutsam wieder zu und war nun im Zimmer. Sein Sie ganz still, sagte sie, die Leute dürfen nicht hören, daß ich bei Ihnen bin. Ich komme eigentlich, Sie zu war¬ nen. Sie sind in ein abscheuliches Haus gerathen, Sie können hier nicht wohnen bleiben. In diesem Hause gehen alle möglichen Schlechtheiten und Gemeinheiten vor, die Wirthsleute beherbergen allerlei liederliches Gesindel, Spitzbuben und Frauenzimmer und schin¬ den und betrügen, daß es eine Freude ist. Da oben im obersten Hinterstübchen wohnt ein alter Weißkopf, mit dem stehen sie im Bunde. Denken Sie sich, dieser alte Kerl sitzt den ganzen langen Tag da oben allein in der engen Cajüte, kein Mensch kennt ihn, 43»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/347>, abgerufen am 23.07.2024.