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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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den König aus, worauf ebenfalls die Nationalhymne gesungen wurde.
Sonntags lief man in die Kirchen, um die rührende Predigt zu hör
ren. Man irrt sich, wenn man von dem Berliner Volke meint, daß
es religiös oder pietistisch sei. Auch diesen Inhalt hat es nicht. Der
Berliner ist witzig, frivol, durch und durch Vergnügungssucht, das
"Vergnügen" sein Gott, seine Religion, sein Cultus, dem er Alles
opfert. Freilich ist auch die Sentimentalität ein Grundzug seines
Charakters, aber er lauft ihr nur nach, wo sie ihn unterhalt, die
Erbauung ist ihm nur die Uebersetzung des Vergnügens in eine andere
Sphäre. So stehen denn auch die Kirchen meistens leer -- wenn es
nicht zufällig dort für die Neugier etwas gibt -- wahrend die Masse
der Bevölkerung mit einer wahren Andacht nach den öffentlichen Ver¬
gnügungsplätzen wallfahrtet. Dieser eigenthümliche Charakter des
Volks ist es aber, der hier so interessante sociale Zustände und
Contraste schafft, wie sie wohl in dieser charakteristischen Weise keine
Stadt so leicht aufzuweisen hat. --

Man empfindet auch hier, wie gewiß überall, die Wirkungen
dieses so unfreundlichen Sommers. Freilich ist dies in Berlin auch
mit einem gewissen Vortheil verbunden, da bei anhaltender Hitze der
Staub in den breiten Straßen immer unerträglich wird. Die schönen
Gartenconcerre vor den Thoren sind diesmal wenig besucht, der trübe
Himmel nimmt diesen einzigen Erholungsplätzen ihren ganzen Reiz.
In den Straßen ist es ziemlich still, wie jedesmal im Sommer, wo
besonders seit einigen Jahren die neu entstandenen Eisenbahnen täg¬
lich Massen der Bevölkerung von hier wegziehen, und ein großer Theil
der Hierbleibenden vor den Thoren wohnt. Das eigentliche Leben
Berlins beginnt erst im Ocrober wieder. -- Im Theater soll "Sam-
piero" kein besonderes Glück gemacht haben, und die Königsstadt er¬
freut jetzt ihr Publicum fast täglich mit einer trivialen Posse "Köck
und Guste" und dem Kindcrballet der Madame Weiß. -- Von Bren¬
tano's "Früblingskranz" ist jetzt in allen Kreisen die Rede. Ich werde
Ihnen nächstens über dieses wirklich "frühlingsduftende" Buch be¬
richten. Von E. Jungnitz erscheint noch im Laufe des Sommers
eine "Geschichte der Religion in Deutschland wahrend der Zeit des
achtzehnten Jahrhunderts", die einen Theil der Bauer'schen Cultur¬
geschichte bilden wird. Von dem neuen Unternehmen des Buchhänd¬
lers Adolph Rieß, vier neue Monatsschriften unter den Titeln "nord¬
deutsche Blätter", norddeutsche Literaturzeitung", "norddeutsche kri¬
tisch-belletristische Zeitschrift" und "norddeutsche literarische Mitthei¬
lungen" herauszugeben, von denen die erste immer am I., die zweite
am 8. u. s. w. des Monats erscheinen sollte, haben Sie wohl ge¬
hört. Das Unternehmen fand Schwierigkeiten -- der Censor verwei¬
gerte des Titels wegen schon die Censur der Norddeutschen Literatur¬
zeitung und diese mußte mit demselben Inhalt als "Berliner Litera-


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den König aus, worauf ebenfalls die Nationalhymne gesungen wurde.
Sonntags lief man in die Kirchen, um die rührende Predigt zu hör
ren. Man irrt sich, wenn man von dem Berliner Volke meint, daß
es religiös oder pietistisch sei. Auch diesen Inhalt hat es nicht. Der
Berliner ist witzig, frivol, durch und durch Vergnügungssucht, das
„Vergnügen" sein Gott, seine Religion, sein Cultus, dem er Alles
opfert. Freilich ist auch die Sentimentalität ein Grundzug seines
Charakters, aber er lauft ihr nur nach, wo sie ihn unterhalt, die
Erbauung ist ihm nur die Uebersetzung des Vergnügens in eine andere
Sphäre. So stehen denn auch die Kirchen meistens leer — wenn es
nicht zufällig dort für die Neugier etwas gibt — wahrend die Masse
der Bevölkerung mit einer wahren Andacht nach den öffentlichen Ver¬
gnügungsplätzen wallfahrtet. Dieser eigenthümliche Charakter des
Volks ist es aber, der hier so interessante sociale Zustände und
Contraste schafft, wie sie wohl in dieser charakteristischen Weise keine
Stadt so leicht aufzuweisen hat. —

Man empfindet auch hier, wie gewiß überall, die Wirkungen
dieses so unfreundlichen Sommers. Freilich ist dies in Berlin auch
mit einem gewissen Vortheil verbunden, da bei anhaltender Hitze der
Staub in den breiten Straßen immer unerträglich wird. Die schönen
Gartenconcerre vor den Thoren sind diesmal wenig besucht, der trübe
Himmel nimmt diesen einzigen Erholungsplätzen ihren ganzen Reiz.
In den Straßen ist es ziemlich still, wie jedesmal im Sommer, wo
besonders seit einigen Jahren die neu entstandenen Eisenbahnen täg¬
lich Massen der Bevölkerung von hier wegziehen, und ein großer Theil
der Hierbleibenden vor den Thoren wohnt. Das eigentliche Leben
Berlins beginnt erst im Ocrober wieder. — Im Theater soll „Sam-
piero" kein besonderes Glück gemacht haben, und die Königsstadt er¬
freut jetzt ihr Publicum fast täglich mit einer trivialen Posse „Köck
und Guste" und dem Kindcrballet der Madame Weiß. — Von Bren¬
tano's „Früblingskranz" ist jetzt in allen Kreisen die Rede. Ich werde
Ihnen nächstens über dieses wirklich „frühlingsduftende" Buch be¬
richten. Von E. Jungnitz erscheint noch im Laufe des Sommers
eine „Geschichte der Religion in Deutschland wahrend der Zeit des
achtzehnten Jahrhunderts", die einen Theil der Bauer'schen Cultur¬
geschichte bilden wird. Von dem neuen Unternehmen des Buchhänd¬
lers Adolph Rieß, vier neue Monatsschriften unter den Titeln „nord¬
deutsche Blätter", norddeutsche Literaturzeitung", „norddeutsche kri¬
tisch-belletristische Zeitschrift" und „norddeutsche literarische Mitthei¬
lungen" herauszugeben, von denen die erste immer am I., die zweite
am 8. u. s. w. des Monats erscheinen sollte, haben Sie wohl ge¬
hört. Das Unternehmen fand Schwierigkeiten — der Censor verwei¬
gerte des Titels wegen schon die Censur der Norddeutschen Literatur¬
zeitung und diese mußte mit demselben Inhalt als „Berliner Litera-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/339>, abgerufen am 01.07.2024.