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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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durch und durch realistische Stadt. Der Meuchelmord wird freilich
eben so in jeder sittlich organisirten Republik wie hier verabscheut,
aber die Aussprüche, die Vorschlage, ja selbst die Gedichte, die hier
an jenes beklagenswerthe Ereigniß geknüpft werden, geben Zeugnis?
davon, daß Berlin in ganz anderer Weise, als etwa Paris, eine solche
Begebenheit aufnimmt. Die Meisten sehen sie gewissermaßen als ein
Familienereigniß an, und wir haben nicht wenige Frauen und Mad¬
chen gesehen, die förmlich Thränen vergossen, als sie von dem Ent¬
setzen sprachen, das die Königin bei jenem Attentat ergrissen haben
muß. Dem Herzen unserer Stadt kann dies nur zur Ehre gereichen,
doch glauben wir, daß auch in dieser Beziehung Berlin keinen anbe-
ten Charakter darbietet, als das gesammte übrige Deutschland. Alle
Vorzüge und die zahlreichen Untugenden, die von Berlin ausgesagt
werden, finden sich mehr oder weniger in jeder anderen deutschen
Stadt wieder. Allerdings gestaltet sich im südlichen Vieles anders,
als im nördlichen Deutschland, aber der Grundzug bleibt derselbe. Und
es würde in der That ein Wunder sein, wenn es nicht so wäre: denn
unter Berlins Einwohnern, und namentlich unter den Erwachsenen,
sind die Berliner, d. h. die geborenen, die Geringsten an Zahl. Aus
allen Gegenden Deutschlands sind die Menschen hierher gebracht. Hier
gibt es nicht, wie in Wien und in anderen noch dem alten Zunft¬
wesen huldigenden Städten, Privilegien, durch welche der aristokrati¬
sche Bürger gegen den Zuzug und die Mitbcwerbung fremder Kräfte
geschützt wird. Jeder Unbescholtene kann hier das Bürgerrecht erlan¬
gen, und so kommt es denn, daß unsere Bürgerschaft Namen zählt,
die dem gesammten übrigen Deutschland -- Oesterreich nicht ausge¬
nommen -- angehören, und daß es hier auch in allen Gewerbsclas-
sen, wie Weinhändler, Hutmacher, Friseurs ?c., Bürger von franzö¬
sischer Nationalität gibt, die sich sogar zu einer besonderen Adresse an
den König vereinigt haben, um ihm ihren Schmerz über das Atten¬
tat zu bezeugen. Zu bedauern ist nur, daß diese von unseren Zeitun¬
gen mitgetheilte Adresse so schlecht stylisirt war.

Thebens, der ebenfalls nicht in Berlin, fondern im Kreise Nimptsch
in Schlesien geboren ist, hat vor der That nicht blos sein Porträt
machen lassen, sondern auch sein Leben beschrieben und, wie es heißt,
einem Buchhändler zur Herausgabe übersandt. Man sollte kaum glau¬
ben, daß ein Mann, der beinahe sechzig Jahre alt ist, solcher Eitelkeit
noch fähig sei. Auch um einen Orden soll er früher, wie behauptet
wird, sich bemüht haben. Es würden diese Züge, wenn sie sich be¬
stätigten, charakteristischer für den inneren Menschen sein, als das
Daguerreotvpbild für den äußeren.

Vor einigen Tagen ist eine Abtheilung des Thiergartens, die
seit längerer Zeit dem Publicum verschlossen war, als "zoologischer
Garten" wieder eröffnet worden. Die bisher auf der Pfaueninsel ge-


durch und durch realistische Stadt. Der Meuchelmord wird freilich
eben so in jeder sittlich organisirten Republik wie hier verabscheut,
aber die Aussprüche, die Vorschlage, ja selbst die Gedichte, die hier
an jenes beklagenswerthe Ereigniß geknüpft werden, geben Zeugnis?
davon, daß Berlin in ganz anderer Weise, als etwa Paris, eine solche
Begebenheit aufnimmt. Die Meisten sehen sie gewissermaßen als ein
Familienereigniß an, und wir haben nicht wenige Frauen und Mad¬
chen gesehen, die förmlich Thränen vergossen, als sie von dem Ent¬
setzen sprachen, das die Königin bei jenem Attentat ergrissen haben
muß. Dem Herzen unserer Stadt kann dies nur zur Ehre gereichen,
doch glauben wir, daß auch in dieser Beziehung Berlin keinen anbe-
ten Charakter darbietet, als das gesammte übrige Deutschland. Alle
Vorzüge und die zahlreichen Untugenden, die von Berlin ausgesagt
werden, finden sich mehr oder weniger in jeder anderen deutschen
Stadt wieder. Allerdings gestaltet sich im südlichen Vieles anders,
als im nördlichen Deutschland, aber der Grundzug bleibt derselbe. Und
es würde in der That ein Wunder sein, wenn es nicht so wäre: denn
unter Berlins Einwohnern, und namentlich unter den Erwachsenen,
sind die Berliner, d. h. die geborenen, die Geringsten an Zahl. Aus
allen Gegenden Deutschlands sind die Menschen hierher gebracht. Hier
gibt es nicht, wie in Wien und in anderen noch dem alten Zunft¬
wesen huldigenden Städten, Privilegien, durch welche der aristokrati¬
sche Bürger gegen den Zuzug und die Mitbcwerbung fremder Kräfte
geschützt wird. Jeder Unbescholtene kann hier das Bürgerrecht erlan¬
gen, und so kommt es denn, daß unsere Bürgerschaft Namen zählt,
die dem gesammten übrigen Deutschland — Oesterreich nicht ausge¬
nommen — angehören, und daß es hier auch in allen Gewerbsclas-
sen, wie Weinhändler, Hutmacher, Friseurs ?c., Bürger von franzö¬
sischer Nationalität gibt, die sich sogar zu einer besonderen Adresse an
den König vereinigt haben, um ihm ihren Schmerz über das Atten¬
tat zu bezeugen. Zu bedauern ist nur, daß diese von unseren Zeitun¬
gen mitgetheilte Adresse so schlecht stylisirt war.

Thebens, der ebenfalls nicht in Berlin, fondern im Kreise Nimptsch
in Schlesien geboren ist, hat vor der That nicht blos sein Porträt
machen lassen, sondern auch sein Leben beschrieben und, wie es heißt,
einem Buchhändler zur Herausgabe übersandt. Man sollte kaum glau¬
ben, daß ein Mann, der beinahe sechzig Jahre alt ist, solcher Eitelkeit
noch fähig sei. Auch um einen Orden soll er früher, wie behauptet
wird, sich bemüht haben. Es würden diese Züge, wenn sie sich be¬
stätigten, charakteristischer für den inneren Menschen sein, als das
Daguerreotvpbild für den äußeren.

Vor einigen Tagen ist eine Abtheilung des Thiergartens, die
seit längerer Zeit dem Publicum verschlossen war, als „zoologischer
Garten" wieder eröffnet worden. Die bisher auf der Pfaueninsel ge-


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[0336] durch und durch realistische Stadt. Der Meuchelmord wird freilich eben so in jeder sittlich organisirten Republik wie hier verabscheut, aber die Aussprüche, die Vorschlage, ja selbst die Gedichte, die hier an jenes beklagenswerthe Ereigniß geknüpft werden, geben Zeugnis? davon, daß Berlin in ganz anderer Weise, als etwa Paris, eine solche Begebenheit aufnimmt. Die Meisten sehen sie gewissermaßen als ein Familienereigniß an, und wir haben nicht wenige Frauen und Mad¬ chen gesehen, die förmlich Thränen vergossen, als sie von dem Ent¬ setzen sprachen, das die Königin bei jenem Attentat ergrissen haben muß. Dem Herzen unserer Stadt kann dies nur zur Ehre gereichen, doch glauben wir, daß auch in dieser Beziehung Berlin keinen anbe- ten Charakter darbietet, als das gesammte übrige Deutschland. Alle Vorzüge und die zahlreichen Untugenden, die von Berlin ausgesagt werden, finden sich mehr oder weniger in jeder anderen deutschen Stadt wieder. Allerdings gestaltet sich im südlichen Vieles anders, als im nördlichen Deutschland, aber der Grundzug bleibt derselbe. Und es würde in der That ein Wunder sein, wenn es nicht so wäre: denn unter Berlins Einwohnern, und namentlich unter den Erwachsenen, sind die Berliner, d. h. die geborenen, die Geringsten an Zahl. Aus allen Gegenden Deutschlands sind die Menschen hierher gebracht. Hier gibt es nicht, wie in Wien und in anderen noch dem alten Zunft¬ wesen huldigenden Städten, Privilegien, durch welche der aristokrati¬ sche Bürger gegen den Zuzug und die Mitbcwerbung fremder Kräfte geschützt wird. Jeder Unbescholtene kann hier das Bürgerrecht erlan¬ gen, und so kommt es denn, daß unsere Bürgerschaft Namen zählt, die dem gesammten übrigen Deutschland — Oesterreich nicht ausge¬ nommen — angehören, und daß es hier auch in allen Gewerbsclas- sen, wie Weinhändler, Hutmacher, Friseurs ?c., Bürger von franzö¬ sischer Nationalität gibt, die sich sogar zu einer besonderen Adresse an den König vereinigt haben, um ihm ihren Schmerz über das Atten¬ tat zu bezeugen. Zu bedauern ist nur, daß diese von unseren Zeitun¬ gen mitgetheilte Adresse so schlecht stylisirt war. Thebens, der ebenfalls nicht in Berlin, fondern im Kreise Nimptsch in Schlesien geboren ist, hat vor der That nicht blos sein Porträt machen lassen, sondern auch sein Leben beschrieben und, wie es heißt, einem Buchhändler zur Herausgabe übersandt. Man sollte kaum glau¬ ben, daß ein Mann, der beinahe sechzig Jahre alt ist, solcher Eitelkeit noch fähig sei. Auch um einen Orden soll er früher, wie behauptet wird, sich bemüht haben. Es würden diese Züge, wenn sie sich be¬ stätigten, charakteristischer für den inneren Menschen sein, als das Daguerreotvpbild für den äußeren. Vor einigen Tagen ist eine Abtheilung des Thiergartens, die seit längerer Zeit dem Publicum verschlossen war, als „zoologischer Garten" wieder eröffnet worden. Die bisher auf der Pfaueninsel ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/336>, abgerufen am 22.12.2024.