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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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Typen, suchen wir neue Effecte in widernatürlichen Gegensätze", und
erzeugen mit aller Anstrengung unsrer Phantasie bizarre, verstüm¬
melte, unreife Gebilde, denen die beiden ersten Bedingungen des Le¬
bens, Einfachheit und Wahrheit, fehlen, und welche mit uns oder
selbst vor uns sterben.

Es handelt sich heutzutage nicht mehr darum, ob ein Romain
Held schön, geistvoll, muthig und von Nang sei; keine dieser Eigen-
schalten ist ihm unbedingt nothwendig; die letzte ist nicht nur ver-
schwunden, was leicht zu begreifen ist, sondern man liebt es noch,
sie durch die ganz entgegengesetzte bei einem Helden zu ersetzen.
Keinen Vater zu haben, ist eines der ersten Vorrechte eines Roman-
Helden; Nichts ist poetischer, als ein Mensch ohne Geburtsschein,
Doch hier sind diese Balzac und Sue noch die aristokratischsten un¬
srer Romanschriftsteller; ihre Helden haben gewöhnlich einen Vater,
meistens selbst einen Titel, oder wenigstens ein Von. Nur stehen
sie gewöhnlich auf geheimnißvolle Weise mit irgend einer Gesellschaft
entlassener Galeerensträflinge, Gauner und Freudenmädchen in Ver¬
bindung, mit einer kleinen Welt für sich, die diese Herren auf ihre
Art organisirt haben, und die ihnen die düstern Farben zu ihren
Gemälden liefert. Die andern Eigenschaften, welche unsre Vorfah¬
ren liebten, sind von einer complicirten Eigenschaft von moderner
Erfindung ersetzt; ich meine das "gewisse Etwas"; diese kostbare Ei¬
genschaft muß Alles ersetzen, das "gewisse Etwas " liegt gewöhnlich
im Auge; dies Auge ist Alles, was man will: es ist bald sanft,
bald stolz, öfter frivol, aber immer berückend. Es hat, um mich ei¬
nes Balzacschcn Ausdrucks zu bedienen, Ausströmungen, deren
Wirkung unwiderstehlich ist, und die ein Frauenherz so sicher durch¬
bohren, wie ein Karabiner von Delvigne aus hundert Schritt. Was
Geist und Herz betrifft, so sind diese mit einem höchst wunderbaren
Gemisch von Eigenschaften ausgestattet. Vor Allem trägt seine Stirn
den Stempel der Göttlichkeit; er hat Genie, viel Genie und ein Uni¬
versalgenie. Er könnte nach eigner Wahl ein großer Feldherr, ein
großer Philosoph, ein großer Dichter, ein großer Redner, ein großer
Staatsmann sein; wenn er weder ein Napoleon, noch ein Montes¬
quieu oder ein Chateaubriand, ein Mirabeau oder ein Richelieu ge¬
worden ist, so liegt der Fehler an den Menschen, die er zu klein ge¬
funden hat, als daß es der Mühe werth wäre, sich um ihre Fuh-


Typen, suchen wir neue Effecte in widernatürlichen Gegensätze», und
erzeugen mit aller Anstrengung unsrer Phantasie bizarre, verstüm¬
melte, unreife Gebilde, denen die beiden ersten Bedingungen des Le¬
bens, Einfachheit und Wahrheit, fehlen, und welche mit uns oder
selbst vor uns sterben.

Es handelt sich heutzutage nicht mehr darum, ob ein Romain
Held schön, geistvoll, muthig und von Nang sei; keine dieser Eigen-
schalten ist ihm unbedingt nothwendig; die letzte ist nicht nur ver-
schwunden, was leicht zu begreifen ist, sondern man liebt es noch,
sie durch die ganz entgegengesetzte bei einem Helden zu ersetzen.
Keinen Vater zu haben, ist eines der ersten Vorrechte eines Roman-
Helden; Nichts ist poetischer, als ein Mensch ohne Geburtsschein,
Doch hier sind diese Balzac und Sue noch die aristokratischsten un¬
srer Romanschriftsteller; ihre Helden haben gewöhnlich einen Vater,
meistens selbst einen Titel, oder wenigstens ein Von. Nur stehen
sie gewöhnlich auf geheimnißvolle Weise mit irgend einer Gesellschaft
entlassener Galeerensträflinge, Gauner und Freudenmädchen in Ver¬
bindung, mit einer kleinen Welt für sich, die diese Herren auf ihre
Art organisirt haben, und die ihnen die düstern Farben zu ihren
Gemälden liefert. Die andern Eigenschaften, welche unsre Vorfah¬
ren liebten, sind von einer complicirten Eigenschaft von moderner
Erfindung ersetzt; ich meine das „gewisse Etwas"; diese kostbare Ei¬
genschaft muß Alles ersetzen, das „gewisse Etwas " liegt gewöhnlich
im Auge; dies Auge ist Alles, was man will: es ist bald sanft,
bald stolz, öfter frivol, aber immer berückend. Es hat, um mich ei¬
nes Balzacschcn Ausdrucks zu bedienen, Ausströmungen, deren
Wirkung unwiderstehlich ist, und die ein Frauenherz so sicher durch¬
bohren, wie ein Karabiner von Delvigne aus hundert Schritt. Was
Geist und Herz betrifft, so sind diese mit einem höchst wunderbaren
Gemisch von Eigenschaften ausgestattet. Vor Allem trägt seine Stirn
den Stempel der Göttlichkeit; er hat Genie, viel Genie und ein Uni¬
versalgenie. Er könnte nach eigner Wahl ein großer Feldherr, ein
großer Philosoph, ein großer Dichter, ein großer Redner, ein großer
Staatsmann sein; wenn er weder ein Napoleon, noch ein Montes¬
quieu oder ein Chateaubriand, ein Mirabeau oder ein Richelieu ge¬
worden ist, so liegt der Fehler an den Menschen, die er zu klein ge¬
funden hat, als daß es der Mühe werth wäre, sich um ihre Fuh-


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[0031] Typen, suchen wir neue Effecte in widernatürlichen Gegensätze», und erzeugen mit aller Anstrengung unsrer Phantasie bizarre, verstüm¬ melte, unreife Gebilde, denen die beiden ersten Bedingungen des Le¬ bens, Einfachheit und Wahrheit, fehlen, und welche mit uns oder selbst vor uns sterben. Es handelt sich heutzutage nicht mehr darum, ob ein Romain Held schön, geistvoll, muthig und von Nang sei; keine dieser Eigen- schalten ist ihm unbedingt nothwendig; die letzte ist nicht nur ver- schwunden, was leicht zu begreifen ist, sondern man liebt es noch, sie durch die ganz entgegengesetzte bei einem Helden zu ersetzen. Keinen Vater zu haben, ist eines der ersten Vorrechte eines Roman- Helden; Nichts ist poetischer, als ein Mensch ohne Geburtsschein, Doch hier sind diese Balzac und Sue noch die aristokratischsten un¬ srer Romanschriftsteller; ihre Helden haben gewöhnlich einen Vater, meistens selbst einen Titel, oder wenigstens ein Von. Nur stehen sie gewöhnlich auf geheimnißvolle Weise mit irgend einer Gesellschaft entlassener Galeerensträflinge, Gauner und Freudenmädchen in Ver¬ bindung, mit einer kleinen Welt für sich, die diese Herren auf ihre Art organisirt haben, und die ihnen die düstern Farben zu ihren Gemälden liefert. Die andern Eigenschaften, welche unsre Vorfah¬ ren liebten, sind von einer complicirten Eigenschaft von moderner Erfindung ersetzt; ich meine das „gewisse Etwas"; diese kostbare Ei¬ genschaft muß Alles ersetzen, das „gewisse Etwas " liegt gewöhnlich im Auge; dies Auge ist Alles, was man will: es ist bald sanft, bald stolz, öfter frivol, aber immer berückend. Es hat, um mich ei¬ nes Balzacschcn Ausdrucks zu bedienen, Ausströmungen, deren Wirkung unwiderstehlich ist, und die ein Frauenherz so sicher durch¬ bohren, wie ein Karabiner von Delvigne aus hundert Schritt. Was Geist und Herz betrifft, so sind diese mit einem höchst wunderbaren Gemisch von Eigenschaften ausgestattet. Vor Allem trägt seine Stirn den Stempel der Göttlichkeit; er hat Genie, viel Genie und ein Uni¬ versalgenie. Er könnte nach eigner Wahl ein großer Feldherr, ein großer Philosoph, ein großer Dichter, ein großer Redner, ein großer Staatsmann sein; wenn er weder ein Napoleon, noch ein Montes¬ quieu oder ein Chateaubriand, ein Mirabeau oder ein Richelieu ge¬ worden ist, so liegt der Fehler an den Menschen, die er zu klein ge¬ funden hat, als daß es der Mühe werth wäre, sich um ihre Fuh-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/31>, abgerufen am 22.12.2024.