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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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die eine Scheu besitzen, sich in ihren Briefen an die vertrautesten Freunde
in allen Dingen auszusprechen ? Und doch wo fallt es Jemand ein, wo würde
es gewagt, oder könnte es gewagt werden, darüber zu klagen? Mit
wie leichtem Achselzucken, mit wie nonchalantem Nasenrümpfen wür¬
den die kleinen Premiers unserer kleinen sogenannten Verfassungsstaa-
ten eine Beschwerde oder Anfrage der Opposition darüber abfertigen!
Als in London die Brieferössnung zur Sprache kam, hat keine euro¬
päische Negierung, außer der französischen, es für nöthig gefunden,
ihre Staatsbürger zu beruhigen und die Existenz einer Postinquisition
in Abrede zu stellen; selbst Frankreich aber, welches durch Heuchelei
der Tugend huldigte, ist minder freisinnig zu nennen, als das eng¬
lische Ministerium, welches den Mißbrauch offen und ehrlich einge¬
stand und -- freilich, weil es muß -- jeder Debatte darüber und
jedem Reformantrag bereitwillig entgegenkommt. So unangenehm die
Entdeckung wirkte, daß auch in England diese krummen Wege ge¬
bräuchlich sind, so erhebend ist das Schauspiel, welches die Agitation
des englischen Publicums gegen die Briefspionage bietet; die zahllosen
-Petitionen und Protestationen aus allen Theilen des Landes und das
geheime Untersuchungscomirv werden die Frage nicht diesesmal erledi¬
gen, aber sie gewiß nicht wieder einschlafen lassen, bevor die Sache der
Freiheit Genugthuung erhalten. Das englische Volk hat, in dem
köstlichen Gefühl seiner Sicherheit und im Vertrauen auf seine Kraft,
die Agitation gar nicht einseitig und grämlich, sondern auch mit alt¬
gewohnten gesundem Humor betrieben. Nicht blos der Deputirte,
der Journalist, der Gcmcindebeamte, selbst Buchbinder und Kunsthänd¬
ler .geißelten in vielfach ergötzlicher Weise das Li-niiitminx c>l I^et-
tei-s. So wurden Oblaten verkauft mit witzigen Devisen, z. B. ein
aufgesperrter Krokodilrachen mit der Unterschrift: Spazieren Sie nur
gefälligst herein: eine gespannte Büchse mit den Worten: Nehmen
Sie sich den Inhalt zu Herzen; ein Paar Handschellen: Möge es zu
Handen kommen u. s. w. -- Uebrigens wollen Kenner behaupten, daß
die Londoner Briefspione wahre Neulinge und plumpe, recht unschul¬
dige Stümper in ihrem Fache sind, da sie im Erbrechen und Wieder¬
siegeln noch eine höchst altmodische Methode befolgen, wahrend die
Kunst in anderen Großstädten die raffinirtesten Fortschritte gemacht
hat.

-- Der "ewige Jude" von Sue verdient wahrlich nicht die grim¬
migen Ausfälle, mit denen einige Zeitungen jetzt regelmäßig ihre Spal¬
ten füllen -- die undankbaren Zeitungen! Es wäre vielmehr zu wün¬
schen, daß die sämmtlichen achthundert namhaften deutschen Buchhänd¬
ler verurtheilt würden, gleichzeitig das Monstrebuch zu übersetzen, zu
drucken und dem Pariser Autor ein imaginäres Monopol ö, la Koll-


die eine Scheu besitzen, sich in ihren Briefen an die vertrautesten Freunde
in allen Dingen auszusprechen ? Und doch wo fallt es Jemand ein, wo würde
es gewagt, oder könnte es gewagt werden, darüber zu klagen? Mit
wie leichtem Achselzucken, mit wie nonchalantem Nasenrümpfen wür¬
den die kleinen Premiers unserer kleinen sogenannten Verfassungsstaa-
ten eine Beschwerde oder Anfrage der Opposition darüber abfertigen!
Als in London die Brieferössnung zur Sprache kam, hat keine euro¬
päische Negierung, außer der französischen, es für nöthig gefunden,
ihre Staatsbürger zu beruhigen und die Existenz einer Postinquisition
in Abrede zu stellen; selbst Frankreich aber, welches durch Heuchelei
der Tugend huldigte, ist minder freisinnig zu nennen, als das eng¬
lische Ministerium, welches den Mißbrauch offen und ehrlich einge¬
stand und — freilich, weil es muß — jeder Debatte darüber und
jedem Reformantrag bereitwillig entgegenkommt. So unangenehm die
Entdeckung wirkte, daß auch in England diese krummen Wege ge¬
bräuchlich sind, so erhebend ist das Schauspiel, welches die Agitation
des englischen Publicums gegen die Briefspionage bietet; die zahllosen
-Petitionen und Protestationen aus allen Theilen des Landes und das
geheime Untersuchungscomirv werden die Frage nicht diesesmal erledi¬
gen, aber sie gewiß nicht wieder einschlafen lassen, bevor die Sache der
Freiheit Genugthuung erhalten. Das englische Volk hat, in dem
köstlichen Gefühl seiner Sicherheit und im Vertrauen auf seine Kraft,
die Agitation gar nicht einseitig und grämlich, sondern auch mit alt¬
gewohnten gesundem Humor betrieben. Nicht blos der Deputirte,
der Journalist, der Gcmcindebeamte, selbst Buchbinder und Kunsthänd¬
ler .geißelten in vielfach ergötzlicher Weise das Li-niiitminx c>l I^et-
tei-s. So wurden Oblaten verkauft mit witzigen Devisen, z. B. ein
aufgesperrter Krokodilrachen mit der Unterschrift: Spazieren Sie nur
gefälligst herein: eine gespannte Büchse mit den Worten: Nehmen
Sie sich den Inhalt zu Herzen; ein Paar Handschellen: Möge es zu
Handen kommen u. s. w. — Uebrigens wollen Kenner behaupten, daß
die Londoner Briefspione wahre Neulinge und plumpe, recht unschul¬
dige Stümper in ihrem Fache sind, da sie im Erbrechen und Wieder¬
siegeln noch eine höchst altmodische Methode befolgen, wahrend die
Kunst in anderen Großstädten die raffinirtesten Fortschritte gemacht
hat.

— Der „ewige Jude" von Sue verdient wahrlich nicht die grim¬
migen Ausfälle, mit denen einige Zeitungen jetzt regelmäßig ihre Spal¬
ten füllen — die undankbaren Zeitungen! Es wäre vielmehr zu wün¬
schen, daß die sämmtlichen achthundert namhaften deutschen Buchhänd¬
ler verurtheilt würden, gleichzeitig das Monstrebuch zu übersetzen, zu
drucken und dem Pariser Autor ein imaginäres Monopol ö, la Koll-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/245>, abgerufen am 23.12.2024.