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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band.

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gestraft. Die Redaction gesteht nämlich ihre Selbsttäuschung, bekennt,
daß sie auf eine haltlose Basis gebaut habe und so zu den Todten
gehen müsse, während der Lebende, wie immer, Recht behalte.
"Ja," ruft sie aus, "ihr Lebenden in Augsburg, Berlin und Köln
habt Recht, ihr rechnetet klug; noch habt ihr Recht, aber bald
wi-rd der Tag eures Unrechts kommen!" --

. Die Richtung hatte sich überlebt, darum vermochte sie den An¬
griffen von Außen keinen genügenden Widerstand entgegenzusetzen,
aber man zweifle deswegen nicht, daß sie bei dem sogenannten gro¬
ßen Publicum noch zahlreiche Anhänger besessen: -- 12,000 Abon¬
nenten hatte die leichtfertige, ungründliche "Locomotive" mit lauter
liberalen Witzen und Späßen sich gewonnen binnen dreiviertel Jahr
inmitten dieser kritischen Zeit. Die Mannheimer Abendzeitung, welche
es unter K. Grün's trefflicher Leitung nicht über 1200 Abonnenten
gebracht, hat nun, da sie die Hälfte ihres Raumes mit Studenten¬
gezänk und vagen Raisonnement des abstracten Liberalismus anfüllt,
ein beneidenswert!) corpulentes Abonnenten-Register auszuweisen:c. --

Wenden wir nun unsere Blicke denjenigen Erscheinungen zu,
welche die neue Entwicklungsphase unserer periodischen Presse im
vergangenen Jahre am entschiedensten bekunden.

Schon Rüge, so sehr er durch und durch Philosoph (?) war,
hatte eine Ahnung verspürt von dem, was der Zeit Noth thue, und
eröffnete demnach den Jahrgang 1843 seiner Deutschen Jahr¬
bücher mit einer "Selbstkritik des Liberalismus", worin er bekennt,
,,daß alles Philosophiren und alle Systeme ohne praktische Anwen¬
dung gar keinen Werth hätten, mithin auch eigentlich keine wahre
Philosophie seien." Man kam damals zu der Ueberzeugung, daß es
mit dem Discutiren in Versen und Prosa über Freiheit, Nationali¬
tät, Einheitsdom noch nicht gethan sei; daß man vielmehr auf das
Vorhandene in scharfer Bestimmtheit eingehen müsse, damit die
materielle Basis des Volkes erst stark werde; daß sich nachgehend?
auf ihr auch die geistige Freiheit in recht vollem Maße verwirklichen
könne. Solche Ansichten Hütte man ein Jahr früher mit Entschieden¬
heit nicht aussprechen dürfen, ohne für einen ErzPhilister verschrien
zu werden, wie es ja z. B. die Oberdeutsche Zeitung oft ge¬
nug hat erfahren müssen, daß man sie mit dem Spitznamen des
"Runkelrübenblattes" ,c. aufzog. Jetzt aber hörte man laut und


Grenzboten 1Si4. II. . 27

gestraft. Die Redaction gesteht nämlich ihre Selbsttäuschung, bekennt,
daß sie auf eine haltlose Basis gebaut habe und so zu den Todten
gehen müsse, während der Lebende, wie immer, Recht behalte.
„Ja," ruft sie aus, „ihr Lebenden in Augsburg, Berlin und Köln
habt Recht, ihr rechnetet klug; noch habt ihr Recht, aber bald
wi-rd der Tag eures Unrechts kommen!" —

. Die Richtung hatte sich überlebt, darum vermochte sie den An¬
griffen von Außen keinen genügenden Widerstand entgegenzusetzen,
aber man zweifle deswegen nicht, daß sie bei dem sogenannten gro¬
ßen Publicum noch zahlreiche Anhänger besessen: — 12,000 Abon¬
nenten hatte die leichtfertige, ungründliche „Locomotive" mit lauter
liberalen Witzen und Späßen sich gewonnen binnen dreiviertel Jahr
inmitten dieser kritischen Zeit. Die Mannheimer Abendzeitung, welche
es unter K. Grün's trefflicher Leitung nicht über 1200 Abonnenten
gebracht, hat nun, da sie die Hälfte ihres Raumes mit Studenten¬
gezänk und vagen Raisonnement des abstracten Liberalismus anfüllt,
ein beneidenswert!) corpulentes Abonnenten-Register auszuweisen:c. —

Wenden wir nun unsere Blicke denjenigen Erscheinungen zu,
welche die neue Entwicklungsphase unserer periodischen Presse im
vergangenen Jahre am entschiedensten bekunden.

Schon Rüge, so sehr er durch und durch Philosoph (?) war,
hatte eine Ahnung verspürt von dem, was der Zeit Noth thue, und
eröffnete demnach den Jahrgang 1843 seiner Deutschen Jahr¬
bücher mit einer „Selbstkritik des Liberalismus", worin er bekennt,
,,daß alles Philosophiren und alle Systeme ohne praktische Anwen¬
dung gar keinen Werth hätten, mithin auch eigentlich keine wahre
Philosophie seien." Man kam damals zu der Ueberzeugung, daß es
mit dem Discutiren in Versen und Prosa über Freiheit, Nationali¬
tät, Einheitsdom noch nicht gethan sei; daß man vielmehr auf das
Vorhandene in scharfer Bestimmtheit eingehen müsse, damit die
materielle Basis des Volkes erst stark werde; daß sich nachgehend?
auf ihr auch die geistige Freiheit in recht vollem Maße verwirklichen
könne. Solche Ansichten Hütte man ein Jahr früher mit Entschieden¬
heit nicht aussprechen dürfen, ohne für einen ErzPhilister verschrien
zu werden, wie es ja z. B. die Oberdeutsche Zeitung oft ge¬
nug hat erfahren müssen, daß man sie mit dem Spitznamen des
„Runkelrübenblattes" ,c. aufzog. Jetzt aber hörte man laut und


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[0217] gestraft. Die Redaction gesteht nämlich ihre Selbsttäuschung, bekennt, daß sie auf eine haltlose Basis gebaut habe und so zu den Todten gehen müsse, während der Lebende, wie immer, Recht behalte. „Ja," ruft sie aus, „ihr Lebenden in Augsburg, Berlin und Köln habt Recht, ihr rechnetet klug; noch habt ihr Recht, aber bald wi-rd der Tag eures Unrechts kommen!" — . Die Richtung hatte sich überlebt, darum vermochte sie den An¬ griffen von Außen keinen genügenden Widerstand entgegenzusetzen, aber man zweifle deswegen nicht, daß sie bei dem sogenannten gro¬ ßen Publicum noch zahlreiche Anhänger besessen: — 12,000 Abon¬ nenten hatte die leichtfertige, ungründliche „Locomotive" mit lauter liberalen Witzen und Späßen sich gewonnen binnen dreiviertel Jahr inmitten dieser kritischen Zeit. Die Mannheimer Abendzeitung, welche es unter K. Grün's trefflicher Leitung nicht über 1200 Abonnenten gebracht, hat nun, da sie die Hälfte ihres Raumes mit Studenten¬ gezänk und vagen Raisonnement des abstracten Liberalismus anfüllt, ein beneidenswert!) corpulentes Abonnenten-Register auszuweisen:c. — Wenden wir nun unsere Blicke denjenigen Erscheinungen zu, welche die neue Entwicklungsphase unserer periodischen Presse im vergangenen Jahre am entschiedensten bekunden. Schon Rüge, so sehr er durch und durch Philosoph (?) war, hatte eine Ahnung verspürt von dem, was der Zeit Noth thue, und eröffnete demnach den Jahrgang 1843 seiner Deutschen Jahr¬ bücher mit einer „Selbstkritik des Liberalismus", worin er bekennt, ,,daß alles Philosophiren und alle Systeme ohne praktische Anwen¬ dung gar keinen Werth hätten, mithin auch eigentlich keine wahre Philosophie seien." Man kam damals zu der Ueberzeugung, daß es mit dem Discutiren in Versen und Prosa über Freiheit, Nationali¬ tät, Einheitsdom noch nicht gethan sei; daß man vielmehr auf das Vorhandene in scharfer Bestimmtheit eingehen müsse, damit die materielle Basis des Volkes erst stark werde; daß sich nachgehend? auf ihr auch die geistige Freiheit in recht vollem Maße verwirklichen könne. Solche Ansichten Hütte man ein Jahr früher mit Entschieden¬ heit nicht aussprechen dürfen, ohne für einen ErzPhilister verschrien zu werden, wie es ja z. B. die Oberdeutsche Zeitung oft ge¬ nug hat erfahren müssen, daß man sie mit dem Spitznamen des „Runkelrübenblattes" ,c. aufzog. Jetzt aber hörte man laut und Grenzboten 1Si4. II. . 27

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_180558/217>, abgerufen am 23.07.2024.