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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Wichtigkeit davon, daß nun auch Rückert nach Berlin kommen
werde. Rückert kam wirklich, der Beginn seiner Vorlesungen ist an¬
gekündigt, der Hörsaal ist gedrängt voll. Unter dem tiefsten, erwar¬
tungsvollsten Stillschweigen der versammelten Zuhörer besteigt der
gelehrte Dichter den Katheder, man sieht seine hohe Gestalt über dem
Hefte liegen, hört einige abgebrochene Laute, aber versteht kein Wort.
Natürlich waren bei diesem gänzlichen Mangel an allem Vortrag
Rückert's weitere Vorlesungen fast gar nicht besucht. Er hat sie fast
ganz eingestellt, da er überhaupt nur sehr ungern liest. -- Aus sei¬
nem mystischen Versteck hervor, in das er sich vierzig Jahre gehüllt
hatte, ruft man einen dem Grabe nahen Greis, den Einzigen, auf
den man seine größte Hoffnung gesetzt hatte. Er sollte mit sei¬
nem gewaltigen Zornwort die junge Zeit niederschmettern, mit seiner
Autorität den aufstrebenden neuen Geist an der Universität vernichten.
Dieser aber war ihr leider schon längst entflohen; aus ihr heraus
gewachsen, hatte er schon außerhalb ihrer ein neues frisches Wirken
begonnen. Es handelte sich schon nicht mehr um eine neue Lehre,
ein neues Dogma, sondern um die Kritik, die sich jetzt an Alles
wagte, Alles zu durchdringen anfing, was die Welt bisher beherrscht
hatte. Doch wurde die Erscheinung Schelling's in Berlin wie eine
Weltbegebenheit begrüßt, mau sah darin den Beginn eines neuen
Kampfes, man glaubte damals noch an die Bedeutung der Univer--
sitäten, es sollten in jenem Winter großartige, entscheidende Thaten
geschehen. Alle die damaligen Parteien erwarteten Schelling mit
Spannung, Alles war begierig, sein neues System zu hören, mit dem
er die "Schmerzen" der Zeit heilen, den Sturm der Zeit beschwören,
den vierzigjährigen Irrthum, zu dem er still geschwiegen, vernichtet!
und eine neue Wahrheit verkündigen wollte. Als ob die Kritik nicht
eben damit beschäftigt gewesen wäre, die große welthistorisch neue
Wahrheit, die Wahrheit, die das achtzehnte Jahrhundert, der ganzen
Vergangenheit gegenüber, entdeckt und geschaffen, die unsere ganze
Zeit mit allen ihren politischen und wissenschaftlichen Heroen bewegt
und durchschüttert hat, als ob nicht, sagen wir, die Kritik damals
gerade angefangen hätte, diese einzig neue Wahrheit kritisch und kon¬
sequent zu entwickeln. Schelling's Hörsaal gewährte einen höchst in¬
teressanten, mehr spaßhaften als ernsten Anblick; ein Gemisch der
verschiedenartigsten Köpfe und Trachten drängte sich dort bunt durch


Wichtigkeit davon, daß nun auch Rückert nach Berlin kommen
werde. Rückert kam wirklich, der Beginn seiner Vorlesungen ist an¬
gekündigt, der Hörsaal ist gedrängt voll. Unter dem tiefsten, erwar¬
tungsvollsten Stillschweigen der versammelten Zuhörer besteigt der
gelehrte Dichter den Katheder, man sieht seine hohe Gestalt über dem
Hefte liegen, hört einige abgebrochene Laute, aber versteht kein Wort.
Natürlich waren bei diesem gänzlichen Mangel an allem Vortrag
Rückert's weitere Vorlesungen fast gar nicht besucht. Er hat sie fast
ganz eingestellt, da er überhaupt nur sehr ungern liest. — Aus sei¬
nem mystischen Versteck hervor, in das er sich vierzig Jahre gehüllt
hatte, ruft man einen dem Grabe nahen Greis, den Einzigen, auf
den man seine größte Hoffnung gesetzt hatte. Er sollte mit sei¬
nem gewaltigen Zornwort die junge Zeit niederschmettern, mit seiner
Autorität den aufstrebenden neuen Geist an der Universität vernichten.
Dieser aber war ihr leider schon längst entflohen; aus ihr heraus
gewachsen, hatte er schon außerhalb ihrer ein neues frisches Wirken
begonnen. Es handelte sich schon nicht mehr um eine neue Lehre,
ein neues Dogma, sondern um die Kritik, die sich jetzt an Alles
wagte, Alles zu durchdringen anfing, was die Welt bisher beherrscht
hatte. Doch wurde die Erscheinung Schelling's in Berlin wie eine
Weltbegebenheit begrüßt, mau sah darin den Beginn eines neuen
Kampfes, man glaubte damals noch an die Bedeutung der Univer--
sitäten, es sollten in jenem Winter großartige, entscheidende Thaten
geschehen. Alle die damaligen Parteien erwarteten Schelling mit
Spannung, Alles war begierig, sein neues System zu hören, mit dem
er die „Schmerzen" der Zeit heilen, den Sturm der Zeit beschwören,
den vierzigjährigen Irrthum, zu dem er still geschwiegen, vernichtet!
und eine neue Wahrheit verkündigen wollte. Als ob die Kritik nicht
eben damit beschäftigt gewesen wäre, die große welthistorisch neue
Wahrheit, die Wahrheit, die das achtzehnte Jahrhundert, der ganzen
Vergangenheit gegenüber, entdeckt und geschaffen, die unsere ganze
Zeit mit allen ihren politischen und wissenschaftlichen Heroen bewegt
und durchschüttert hat, als ob nicht, sagen wir, die Kritik damals
gerade angefangen hätte, diese einzig neue Wahrheit kritisch und kon¬
sequent zu entwickeln. Schelling's Hörsaal gewährte einen höchst in¬
teressanten, mehr spaßhaften als ernsten Anblick; ein Gemisch der
verschiedenartigsten Köpfe und Trachten drängte sich dort bunt durch


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[0829] Wichtigkeit davon, daß nun auch Rückert nach Berlin kommen werde. Rückert kam wirklich, der Beginn seiner Vorlesungen ist an¬ gekündigt, der Hörsaal ist gedrängt voll. Unter dem tiefsten, erwar¬ tungsvollsten Stillschweigen der versammelten Zuhörer besteigt der gelehrte Dichter den Katheder, man sieht seine hohe Gestalt über dem Hefte liegen, hört einige abgebrochene Laute, aber versteht kein Wort. Natürlich waren bei diesem gänzlichen Mangel an allem Vortrag Rückert's weitere Vorlesungen fast gar nicht besucht. Er hat sie fast ganz eingestellt, da er überhaupt nur sehr ungern liest. — Aus sei¬ nem mystischen Versteck hervor, in das er sich vierzig Jahre gehüllt hatte, ruft man einen dem Grabe nahen Greis, den Einzigen, auf den man seine größte Hoffnung gesetzt hatte. Er sollte mit sei¬ nem gewaltigen Zornwort die junge Zeit niederschmettern, mit seiner Autorität den aufstrebenden neuen Geist an der Universität vernichten. Dieser aber war ihr leider schon längst entflohen; aus ihr heraus gewachsen, hatte er schon außerhalb ihrer ein neues frisches Wirken begonnen. Es handelte sich schon nicht mehr um eine neue Lehre, ein neues Dogma, sondern um die Kritik, die sich jetzt an Alles wagte, Alles zu durchdringen anfing, was die Welt bisher beherrscht hatte. Doch wurde die Erscheinung Schelling's in Berlin wie eine Weltbegebenheit begrüßt, mau sah darin den Beginn eines neuen Kampfes, man glaubte damals noch an die Bedeutung der Univer-- sitäten, es sollten in jenem Winter großartige, entscheidende Thaten geschehen. Alle die damaligen Parteien erwarteten Schelling mit Spannung, Alles war begierig, sein neues System zu hören, mit dem er die „Schmerzen" der Zeit heilen, den Sturm der Zeit beschwören, den vierzigjährigen Irrthum, zu dem er still geschwiegen, vernichtet! und eine neue Wahrheit verkündigen wollte. Als ob die Kritik nicht eben damit beschäftigt gewesen wäre, die große welthistorisch neue Wahrheit, die Wahrheit, die das achtzehnte Jahrhundert, der ganzen Vergangenheit gegenüber, entdeckt und geschaffen, die unsere ganze Zeit mit allen ihren politischen und wissenschaftlichen Heroen bewegt und durchschüttert hat, als ob nicht, sagen wir, die Kritik damals gerade angefangen hätte, diese einzig neue Wahrheit kritisch und kon¬ sequent zu entwickeln. Schelling's Hörsaal gewährte einen höchst in¬ teressanten, mehr spaßhaften als ernsten Anblick; ein Gemisch der verschiedenartigsten Köpfe und Trachten drängte sich dort bunt durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/829>, abgerufen am 29.06.2024.