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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Und das sind die Einen, dies sind noch die Einzigen, welche
aus Bedürfniß oder Handwerk sich um das, was in Ungarn vor¬
geht, bekümmern. Was soll man von den Andern sagen? Ich will
nur ein Beispiel anführen. Ein Berliner, dessen Aufmerksamkeit ich
auf das politische Leben des großen Donaureiches zu lenken suchte,
meinte in vollem Ernst: Es sei nicht der Mühe werth, von diesem
Ungarn >-t das zu reden. Denn, rief er von der Höhe seines phi¬
losophischen Standpunktes zu nnr nieder, was kann aus Ungarn für
eine neue Idee kommen? Die Theorien, welche sie dort erst empirisch
zusammenbuchstabiren, haben wir längst innerlich durchgemacht und
überwunden. Aus einem naturwüchsigen Lande, aus einem Volke,
das noch gar nicht anders als unfrei denken kann, wird sich nie ein
neues System entwickeln.

Diesen Herren -- denn mein Berliner ist keineswegs blos ein
Einzelner, sondern der Repräsentant einer zahlreichen Philosophischen
Schule in Deutschland -- ist es also vor Allem um das System,
um die Theorie zu thun. Die Völker werden von ihnen aus dem¬
selben Gesichtspunkte betrachtet, wie eine Menagerie von einem Na¬
turforscher: Dieses Thier gehört in jene und dieses in eine andere
Klasse; es ist kein neues Exemplar da, es ist Nichts dabei zu lernen.
Darin unterscheiden sich unsere philosophischen Politiker von den Eng¬
ländern und Franzosen. Diese betrachten die fremden Völker zuerst
von dem praktischen Gesichtspunkt wie ein Jäger, der in einer Me¬
nagerie ruft: wenn ich nur jenen Löwen erlegen könnte, wenn ich
nur jene Hirsche in meinem Park hätte! Der Engländer kümmert sich
wenig, von welcher ideellen Theorie dieses oder jenes Volk ausgeht,
aber er weiß haarklein, welchen Nutzen es seinem Lande bringen
kann, wenn diese oder jene Wendung einträte. Er kennt jedes Fleck¬
chen in den fünf Welttheilen, aus welchem seiner nationalen Wohl¬
fahrt ein Vortheil erwachsen könnte; und das unphilosophische Land
der Königin Pomarö ist ihm ebenso wichtig und interessant als z. B.
die theorienreiche Schweiz, das literarische Comptoir in Winterthur
mit eingerechnet.

Wir aber sind immer noch theoretisch-kritische Zuschauer vor je¬
der großen und kleinen politischen Bühne. Die Geschichte wie die
Politik ist uns eine Gellert'sche Fabel, die Hauptsache dabei bleibt


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Und das sind die Einen, dies sind noch die Einzigen, welche
aus Bedürfniß oder Handwerk sich um das, was in Ungarn vor¬
geht, bekümmern. Was soll man von den Andern sagen? Ich will
nur ein Beispiel anführen. Ein Berliner, dessen Aufmerksamkeit ich
auf das politische Leben des großen Donaureiches zu lenken suchte,
meinte in vollem Ernst: Es sei nicht der Mühe werth, von diesem
Ungarn >-t das zu reden. Denn, rief er von der Höhe seines phi¬
losophischen Standpunktes zu nnr nieder, was kann aus Ungarn für
eine neue Idee kommen? Die Theorien, welche sie dort erst empirisch
zusammenbuchstabiren, haben wir längst innerlich durchgemacht und
überwunden. Aus einem naturwüchsigen Lande, aus einem Volke,
das noch gar nicht anders als unfrei denken kann, wird sich nie ein
neues System entwickeln.

Diesen Herren — denn mein Berliner ist keineswegs blos ein
Einzelner, sondern der Repräsentant einer zahlreichen Philosophischen
Schule in Deutschland — ist es also vor Allem um das System,
um die Theorie zu thun. Die Völker werden von ihnen aus dem¬
selben Gesichtspunkte betrachtet, wie eine Menagerie von einem Na¬
turforscher: Dieses Thier gehört in jene und dieses in eine andere
Klasse; es ist kein neues Exemplar da, es ist Nichts dabei zu lernen.
Darin unterscheiden sich unsere philosophischen Politiker von den Eng¬
ländern und Franzosen. Diese betrachten die fremden Völker zuerst
von dem praktischen Gesichtspunkt wie ein Jäger, der in einer Me¬
nagerie ruft: wenn ich nur jenen Löwen erlegen könnte, wenn ich
nur jene Hirsche in meinem Park hätte! Der Engländer kümmert sich
wenig, von welcher ideellen Theorie dieses oder jenes Volk ausgeht,
aber er weiß haarklein, welchen Nutzen es seinem Lande bringen
kann, wenn diese oder jene Wendung einträte. Er kennt jedes Fleck¬
chen in den fünf Welttheilen, aus welchem seiner nationalen Wohl¬
fahrt ein Vortheil erwachsen könnte; und das unphilosophische Land
der Königin Pomarö ist ihm ebenso wichtig und interessant als z. B.
die theorienreiche Schweiz, das literarische Comptoir in Winterthur
mit eingerechnet.

Wir aber sind immer noch theoretisch-kritische Zuschauer vor je¬
der großen und kleinen politischen Bühne. Die Geschichte wie die
Politik ist uns eine Gellert'sche Fabel, die Hauptsache dabei bleibt


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[0811] Und das sind die Einen, dies sind noch die Einzigen, welche aus Bedürfniß oder Handwerk sich um das, was in Ungarn vor¬ geht, bekümmern. Was soll man von den Andern sagen? Ich will nur ein Beispiel anführen. Ein Berliner, dessen Aufmerksamkeit ich auf das politische Leben des großen Donaureiches zu lenken suchte, meinte in vollem Ernst: Es sei nicht der Mühe werth, von diesem Ungarn >-t das zu reden. Denn, rief er von der Höhe seines phi¬ losophischen Standpunktes zu nnr nieder, was kann aus Ungarn für eine neue Idee kommen? Die Theorien, welche sie dort erst empirisch zusammenbuchstabiren, haben wir längst innerlich durchgemacht und überwunden. Aus einem naturwüchsigen Lande, aus einem Volke, das noch gar nicht anders als unfrei denken kann, wird sich nie ein neues System entwickeln. Diesen Herren — denn mein Berliner ist keineswegs blos ein Einzelner, sondern der Repräsentant einer zahlreichen Philosophischen Schule in Deutschland — ist es also vor Allem um das System, um die Theorie zu thun. Die Völker werden von ihnen aus dem¬ selben Gesichtspunkte betrachtet, wie eine Menagerie von einem Na¬ turforscher: Dieses Thier gehört in jene und dieses in eine andere Klasse; es ist kein neues Exemplar da, es ist Nichts dabei zu lernen. Darin unterscheiden sich unsere philosophischen Politiker von den Eng¬ ländern und Franzosen. Diese betrachten die fremden Völker zuerst von dem praktischen Gesichtspunkt wie ein Jäger, der in einer Me¬ nagerie ruft: wenn ich nur jenen Löwen erlegen könnte, wenn ich nur jene Hirsche in meinem Park hätte! Der Engländer kümmert sich wenig, von welcher ideellen Theorie dieses oder jenes Volk ausgeht, aber er weiß haarklein, welchen Nutzen es seinem Lande bringen kann, wenn diese oder jene Wendung einträte. Er kennt jedes Fleck¬ chen in den fünf Welttheilen, aus welchem seiner nationalen Wohl¬ fahrt ein Vortheil erwachsen könnte; und das unphilosophische Land der Königin Pomarö ist ihm ebenso wichtig und interessant als z. B. die theorienreiche Schweiz, das literarische Comptoir in Winterthur mit eingerechnet. Wir aber sind immer noch theoretisch-kritische Zuschauer vor je¬ der großen und kleinen politischen Bühne. Die Geschichte wie die Politik ist uns eine Gellert'sche Fabel, die Hauptsache dabei bleibt 104»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/811>, abgerufen am 28.09.2024.