Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

greifen anfängt, ohne Huldigungen zu empfangen, die für uns tief
beschämend sind. Aus einer norddeutschen Residenz erzählt man eine
Scene, die wir für unglaublich halten würden, wäre sie nicht in der
ersten deutschen Zeitung, in der Augsburger Allgemeinen, in wohl¬
gefälliger und beinahe rühmender Schilderung zu lesen; und die Re¬
daction jenes Blattes hielt es nicht einmal für nöthig, durch ein strafen¬
des Wort oder ein zweifelndes Fragezeichen die Aufnahme einer so
taktlosen Correspondenz zu entschuldigen. Nikolaus war, auf seiner
Reise nach London, in Braunschweig angekommen und kaum aus
dem Wagen gestiegen, so sammelte sich devotes Publicum, Mützen
flogen in die Luft, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, und zahl¬
reiche Hurrahs! ertönten! Wäre das in mancher anderen Stadt,
z. B. in Prag, vorgefallen, wie würde man da über panslavistische
Sympathien schreien. Das Braunschweiger Beispiel zeigt, daß die
Devotion vor Nußland, die man da oder dort bemerkt, oft nichts
weniger als Panslavismus, vielmehr gutdeutscher Philistersinn ist.
Wie der Correspondent zu verstehen gibt, soll die Begeisterung nur
dem schönen stattlichen Mann! und seinem freundlichen Benehmen
gegolten haben; d. h. es war der unwillkürliche Drang des Philisters,
entzückt zu sein, wenn ein großer Herr traulich thut; das Bedürfniß,
vor einer so gewaltigen Majestät seine gute Gesinnung und respect¬
volle Aufführung zuproduciren. Nikolaus hat gewiß von Braunschweig
recht herablassend Abschied genommen: mehr Achtung, dünkt uns
wird er vor dem englischen Publicum empfunden haben, welches ihn
sehr ruhig und mit selbstbewußter Würde empfing, obwohl es seine
politischen Talente gewiß recht gut verstehen und anerkennen mag.

-- In Lüttich besteht seit April 1842 eine Zufluchtsstätte für
gefallene Mädchen (in-.i8.ii, loin"-"). Es hat seit seiner Begrün-
dung bereits achtzig Mädchen (von siebzehn bis dreißig Jahren) auf¬
genommen, von denen ein Theil aus dem Gefängniß, ein anderer so-
gar aus prostituirten Häusern kamen. In diesem Augenblicke befin¬
den sich blos achtundvierzig darin. Die übrigen sind 'in Dienste ge¬
treten, oder zu ihren Eltern zurückgekehrt. Die meisten der Letzteren
haben sich durch ihre Aufführung bisher als wirklich gebessert bewährt.

-- Die endlich erfolgte Verurtheilung Daniel O'Connell's zu
einem ^ahre Gefängniß, zweitausend Pfund Sterling Buße und zehn¬
tausend Pfund Bürgschaft für sieben Jahre zu haltenden Frieden wird
in England verschieden angesehen. Einige Torystimmen halten die
Strafe für gering: im Gegensatz dazu hat das katholische Irland die¬
sen Ausgang des Prozesses wie ein Nationalunglück aufgenommen,
und tiefe Trauer überschattet das grüne Erin. Am Tage, wo sich


greifen anfängt, ohne Huldigungen zu empfangen, die für uns tief
beschämend sind. Aus einer norddeutschen Residenz erzählt man eine
Scene, die wir für unglaublich halten würden, wäre sie nicht in der
ersten deutschen Zeitung, in der Augsburger Allgemeinen, in wohl¬
gefälliger und beinahe rühmender Schilderung zu lesen; und die Re¬
daction jenes Blattes hielt es nicht einmal für nöthig, durch ein strafen¬
des Wort oder ein zweifelndes Fragezeichen die Aufnahme einer so
taktlosen Correspondenz zu entschuldigen. Nikolaus war, auf seiner
Reise nach London, in Braunschweig angekommen und kaum aus
dem Wagen gestiegen, so sammelte sich devotes Publicum, Mützen
flogen in die Luft, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, und zahl¬
reiche Hurrahs! ertönten! Wäre das in mancher anderen Stadt,
z. B. in Prag, vorgefallen, wie würde man da über panslavistische
Sympathien schreien. Das Braunschweiger Beispiel zeigt, daß die
Devotion vor Nußland, die man da oder dort bemerkt, oft nichts
weniger als Panslavismus, vielmehr gutdeutscher Philistersinn ist.
Wie der Correspondent zu verstehen gibt, soll die Begeisterung nur
dem schönen stattlichen Mann! und seinem freundlichen Benehmen
gegolten haben; d. h. es war der unwillkürliche Drang des Philisters,
entzückt zu sein, wenn ein großer Herr traulich thut; das Bedürfniß,
vor einer so gewaltigen Majestät seine gute Gesinnung und respect¬
volle Aufführung zuproduciren. Nikolaus hat gewiß von Braunschweig
recht herablassend Abschied genommen: mehr Achtung, dünkt uns
wird er vor dem englischen Publicum empfunden haben, welches ihn
sehr ruhig und mit selbstbewußter Würde empfing, obwohl es seine
politischen Talente gewiß recht gut verstehen und anerkennen mag.

— In Lüttich besteht seit April 1842 eine Zufluchtsstätte für
gefallene Mädchen (in-.i8.ii, loin»-«). Es hat seit seiner Begrün-
dung bereits achtzig Mädchen (von siebzehn bis dreißig Jahren) auf¬
genommen, von denen ein Theil aus dem Gefängniß, ein anderer so-
gar aus prostituirten Häusern kamen. In diesem Augenblicke befin¬
den sich blos achtundvierzig darin. Die übrigen sind 'in Dienste ge¬
treten, oder zu ihren Eltern zurückgekehrt. Die meisten der Letzteren
haben sich durch ihre Aufführung bisher als wirklich gebessert bewährt.

— Die endlich erfolgte Verurtheilung Daniel O'Connell's zu
einem ^ahre Gefängniß, zweitausend Pfund Sterling Buße und zehn¬
tausend Pfund Bürgschaft für sieben Jahre zu haltenden Frieden wird
in England verschieden angesehen. Einige Torystimmen halten die
Strafe für gering: im Gegensatz dazu hat das katholische Irland die¬
sen Ausgang des Prozesses wie ein Nationalunglück aufgenommen,
und tiefe Trauer überschattet das grüne Erin. Am Tage, wo sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0805" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/180518"/>
            <p xml:id="ID_2061" prev="#ID_2060"> greifen anfängt, ohne Huldigungen zu empfangen, die für uns tief<lb/>
beschämend sind. Aus einer norddeutschen Residenz erzählt man eine<lb/>
Scene, die wir für unglaublich halten würden, wäre sie nicht in der<lb/>
ersten deutschen Zeitung, in der Augsburger Allgemeinen, in wohl¬<lb/>
gefälliger und beinahe rühmender Schilderung zu lesen; und die Re¬<lb/>
daction jenes Blattes hielt es nicht einmal für nöthig, durch ein strafen¬<lb/>
des Wort oder ein zweifelndes Fragezeichen die Aufnahme einer so<lb/>
taktlosen Correspondenz zu entschuldigen. Nikolaus war, auf seiner<lb/>
Reise nach London, in Braunschweig angekommen und kaum aus<lb/>
dem Wagen gestiegen, so sammelte sich devotes Publicum, Mützen<lb/>
flogen in die Luft, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, und zahl¬<lb/>
reiche Hurrahs! ertönten! Wäre das in mancher anderen Stadt,<lb/>
z. B. in Prag, vorgefallen, wie würde man da über panslavistische<lb/>
Sympathien schreien. Das Braunschweiger Beispiel zeigt, daß die<lb/>
Devotion vor Nußland, die man da oder dort bemerkt, oft nichts<lb/>
weniger als Panslavismus, vielmehr gutdeutscher Philistersinn ist.<lb/>
Wie der Correspondent zu verstehen gibt, soll die Begeisterung nur<lb/>
dem schönen stattlichen Mann! und seinem freundlichen Benehmen<lb/>
gegolten haben; d. h. es war der unwillkürliche Drang des Philisters,<lb/>
entzückt zu sein, wenn ein großer Herr traulich thut; das Bedürfniß,<lb/>
vor einer so gewaltigen Majestät seine gute Gesinnung und respect¬<lb/>
volle Aufführung zuproduciren. Nikolaus hat gewiß von Braunschweig<lb/>
recht herablassend Abschied genommen: mehr Achtung, dünkt uns<lb/>
wird er vor dem englischen Publicum empfunden haben, welches ihn<lb/>
sehr ruhig und mit selbstbewußter Würde empfing, obwohl es seine<lb/>
politischen Talente gewiß recht gut verstehen und anerkennen mag.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2062"> &#x2014; In Lüttich besteht seit April 1842 eine Zufluchtsstätte für<lb/>
gefallene Mädchen (in-.i8.ii, loin»-«). Es hat seit seiner Begrün-<lb/>
dung bereits achtzig Mädchen (von siebzehn bis dreißig Jahren) auf¬<lb/>
genommen, von denen ein Theil aus dem Gefängniß, ein anderer so-<lb/>
gar aus prostituirten Häusern kamen. In diesem Augenblicke befin¬<lb/>
den sich blos achtundvierzig darin. Die übrigen sind 'in Dienste ge¬<lb/>
treten, oder zu ihren Eltern zurückgekehrt. Die meisten der Letzteren<lb/>
haben sich durch ihre Aufführung bisher als wirklich gebessert bewährt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2063" next="#ID_2064"> &#x2014; Die endlich erfolgte Verurtheilung Daniel O'Connell's zu<lb/>
einem ^ahre Gefängniß, zweitausend Pfund Sterling Buße und zehn¬<lb/>
tausend Pfund Bürgschaft für sieben Jahre zu haltenden Frieden wird<lb/>
in England verschieden angesehen. Einige Torystimmen halten die<lb/>
Strafe für gering: im Gegensatz dazu hat das katholische Irland die¬<lb/>
sen Ausgang des Prozesses wie ein Nationalunglück aufgenommen,<lb/>
und tiefe Trauer überschattet das grüne Erin.  Am Tage, wo sich</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0805] greifen anfängt, ohne Huldigungen zu empfangen, die für uns tief beschämend sind. Aus einer norddeutschen Residenz erzählt man eine Scene, die wir für unglaublich halten würden, wäre sie nicht in der ersten deutschen Zeitung, in der Augsburger Allgemeinen, in wohl¬ gefälliger und beinahe rühmender Schilderung zu lesen; und die Re¬ daction jenes Blattes hielt es nicht einmal für nöthig, durch ein strafen¬ des Wort oder ein zweifelndes Fragezeichen die Aufnahme einer so taktlosen Correspondenz zu entschuldigen. Nikolaus war, auf seiner Reise nach London, in Braunschweig angekommen und kaum aus dem Wagen gestiegen, so sammelte sich devotes Publicum, Mützen flogen in die Luft, Hüte und Tücher wurden geschwenkt, und zahl¬ reiche Hurrahs! ertönten! Wäre das in mancher anderen Stadt, z. B. in Prag, vorgefallen, wie würde man da über panslavistische Sympathien schreien. Das Braunschweiger Beispiel zeigt, daß die Devotion vor Nußland, die man da oder dort bemerkt, oft nichts weniger als Panslavismus, vielmehr gutdeutscher Philistersinn ist. Wie der Correspondent zu verstehen gibt, soll die Begeisterung nur dem schönen stattlichen Mann! und seinem freundlichen Benehmen gegolten haben; d. h. es war der unwillkürliche Drang des Philisters, entzückt zu sein, wenn ein großer Herr traulich thut; das Bedürfniß, vor einer so gewaltigen Majestät seine gute Gesinnung und respect¬ volle Aufführung zuproduciren. Nikolaus hat gewiß von Braunschweig recht herablassend Abschied genommen: mehr Achtung, dünkt uns wird er vor dem englischen Publicum empfunden haben, welches ihn sehr ruhig und mit selbstbewußter Würde empfing, obwohl es seine politischen Talente gewiß recht gut verstehen und anerkennen mag. — In Lüttich besteht seit April 1842 eine Zufluchtsstätte für gefallene Mädchen (in-.i8.ii, loin»-«). Es hat seit seiner Begrün- dung bereits achtzig Mädchen (von siebzehn bis dreißig Jahren) auf¬ genommen, von denen ein Theil aus dem Gefängniß, ein anderer so- gar aus prostituirten Häusern kamen. In diesem Augenblicke befin¬ den sich blos achtundvierzig darin. Die übrigen sind 'in Dienste ge¬ treten, oder zu ihren Eltern zurückgekehrt. Die meisten der Letzteren haben sich durch ihre Aufführung bisher als wirklich gebessert bewährt. — Die endlich erfolgte Verurtheilung Daniel O'Connell's zu einem ^ahre Gefängniß, zweitausend Pfund Sterling Buße und zehn¬ tausend Pfund Bürgschaft für sieben Jahre zu haltenden Frieden wird in England verschieden angesehen. Einige Torystimmen halten die Strafe für gering: im Gegensatz dazu hat das katholische Irland die¬ sen Ausgang des Prozesses wie ein Nationalunglück aufgenommen, und tiefe Trauer überschattet das grüne Erin. Am Tage, wo sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/805
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/805>, abgerufen am 29.06.2024.