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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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ist ein sehr schätzbares und wichtiges, trotz seiner subjektiven Verir-
rungen und objectiven Unrichtigkeiten. Wir wurden in dieser Ansicht
durch glaubwürdige und angesehene Männer bestärkt, die Rußland aus
eigener Anschauung kennen und übereinstimmend versicherten: Der
Marquis habe durch zahlreiche Unrichtigkeiten in äußerlichen und gleich-
giltigen Dingen, so wie durch seine Indiscretion seinem Credit ge¬
schadet, allein in der Charakterisirung des Volkes, des Staatswesens,
des Adels und der Kirche habe er Erstaunliches und kaum zu Ueber-
treffendes geleistet. So habe er sich einreden lassen, es gebe keine
verläßlichen Aerzte in Rußland, während es von den vortrefflichsten
Medizinern wimmle; so habe er über die Unwirthlichkeit der Hotels
geklagt während die Schuld davon auf die russische Gastlichkeit zu
schieben ist, welche die Hotels eben so überflüssig mache, als sie in
Deutschland vor fünf Jahrhunderten waren. Doch dürfe man auch
den russischen Berichtigungen nicht trauen. Gretsch widerlegte, was
C über den Bau des Winterpalastes erzählt, durch halbe Wahrheiten.
Die Arbeiter waren allerdings bezahlte, aber nichtsdestoweniger gezwun¬
gene Leute. Baron Kleinmichel, Adjutant des Kaisers, leitete den
Bau, der so wunderbar schnell, aber mit einem großen Verlust an
Menschenleben vollendet wurde. Die Arbeiter wurden nicht auf die
ganze Dauer der Bauzeit engagirt; doch wer von ihnen einmal den
Palast betreten hatte, wurde nicht wieder herausgelassen ?c. -- Was
C. so verhaßt, aber auch so bedeutend macht, ist die erschöpfende
Energie und Tiefe seiner Darstellung. Darin liegt seine Kraft und
das ist es, wodurch er, bei aller feuilletonistischen Reizbarkeit, bei
aller scheinbaren Leichtfertigkeit, unsere gründlichen Forscher weit hin¬
ter sich zurückläßt. Man hat es geahnt, tausendmal angedeutet und
behauptet jetzt es schon gekannt zu haben, aber Niemand vor ihm hat
es so im innersten Nerv getroffen: das in leichtsinniger Sicherheit
verachtete, aus Instinkt gehaßte, von Gedankenlosen um seines äußern
Glanzes willen angebetete, räthselhafte russische Wesen. Wie russischer
Fortschritt und russische Barbarei brüderlich mit einander gehen kön¬
nen, wie der Zwiespalt zwischen exotischer Cultur und heimischer Roh¬
heit so lange ungelöst bleiben kann, sollte freilich Niemand ein Räth¬
sel sein; aber doch hat erst Custine Rußland als das schlagendste Bei¬
spiel für die Lehre aufgestellt: daß das schlaueste Cabinet kein Botts-
"rzieher, kein Gesetzgeber und kein Schöpfer sein kann. -- Wer die
bekannten Correspondenzen aus Berlin, die von derselben Feder für
die Deutsche Allgemeine und die Bremer Zeitung geschrieben werden,
verfolgt hat, wird erkennen, daß man von Custine lernen kann.

-- Privatbriefe aus dem Kirchenstaate (von denen die deutschen
Zeitungen schweigen) berichten von der Verurtheilung der bei der letz¬
ten Revolte in der Romagna Gefangenen. Wie gewöhnlich gelang


ist ein sehr schätzbares und wichtiges, trotz seiner subjektiven Verir-
rungen und objectiven Unrichtigkeiten. Wir wurden in dieser Ansicht
durch glaubwürdige und angesehene Männer bestärkt, die Rußland aus
eigener Anschauung kennen und übereinstimmend versicherten: Der
Marquis habe durch zahlreiche Unrichtigkeiten in äußerlichen und gleich-
giltigen Dingen, so wie durch seine Indiscretion seinem Credit ge¬
schadet, allein in der Charakterisirung des Volkes, des Staatswesens,
des Adels und der Kirche habe er Erstaunliches und kaum zu Ueber-
treffendes geleistet. So habe er sich einreden lassen, es gebe keine
verläßlichen Aerzte in Rußland, während es von den vortrefflichsten
Medizinern wimmle; so habe er über die Unwirthlichkeit der Hotels
geklagt während die Schuld davon auf die russische Gastlichkeit zu
schieben ist, welche die Hotels eben so überflüssig mache, als sie in
Deutschland vor fünf Jahrhunderten waren. Doch dürfe man auch
den russischen Berichtigungen nicht trauen. Gretsch widerlegte, was
C über den Bau des Winterpalastes erzählt, durch halbe Wahrheiten.
Die Arbeiter waren allerdings bezahlte, aber nichtsdestoweniger gezwun¬
gene Leute. Baron Kleinmichel, Adjutant des Kaisers, leitete den
Bau, der so wunderbar schnell, aber mit einem großen Verlust an
Menschenleben vollendet wurde. Die Arbeiter wurden nicht auf die
ganze Dauer der Bauzeit engagirt; doch wer von ihnen einmal den
Palast betreten hatte, wurde nicht wieder herausgelassen ?c. — Was
C. so verhaßt, aber auch so bedeutend macht, ist die erschöpfende
Energie und Tiefe seiner Darstellung. Darin liegt seine Kraft und
das ist es, wodurch er, bei aller feuilletonistischen Reizbarkeit, bei
aller scheinbaren Leichtfertigkeit, unsere gründlichen Forscher weit hin¬
ter sich zurückläßt. Man hat es geahnt, tausendmal angedeutet und
behauptet jetzt es schon gekannt zu haben, aber Niemand vor ihm hat
es so im innersten Nerv getroffen: das in leichtsinniger Sicherheit
verachtete, aus Instinkt gehaßte, von Gedankenlosen um seines äußern
Glanzes willen angebetete, räthselhafte russische Wesen. Wie russischer
Fortschritt und russische Barbarei brüderlich mit einander gehen kön¬
nen, wie der Zwiespalt zwischen exotischer Cultur und heimischer Roh¬
heit so lange ungelöst bleiben kann, sollte freilich Niemand ein Räth¬
sel sein; aber doch hat erst Custine Rußland als das schlagendste Bei¬
spiel für die Lehre aufgestellt: daß das schlaueste Cabinet kein Botts-
«rzieher, kein Gesetzgeber und kein Schöpfer sein kann. — Wer die
bekannten Correspondenzen aus Berlin, die von derselben Feder für
die Deutsche Allgemeine und die Bremer Zeitung geschrieben werden,
verfolgt hat, wird erkennen, daß man von Custine lernen kann.

— Privatbriefe aus dem Kirchenstaate (von denen die deutschen
Zeitungen schweigen) berichten von der Verurtheilung der bei der letz¬
ten Revolte in der Romagna Gefangenen. Wie gewöhnlich gelang


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[0737] ist ein sehr schätzbares und wichtiges, trotz seiner subjektiven Verir- rungen und objectiven Unrichtigkeiten. Wir wurden in dieser Ansicht durch glaubwürdige und angesehene Männer bestärkt, die Rußland aus eigener Anschauung kennen und übereinstimmend versicherten: Der Marquis habe durch zahlreiche Unrichtigkeiten in äußerlichen und gleich- giltigen Dingen, so wie durch seine Indiscretion seinem Credit ge¬ schadet, allein in der Charakterisirung des Volkes, des Staatswesens, des Adels und der Kirche habe er Erstaunliches und kaum zu Ueber- treffendes geleistet. So habe er sich einreden lassen, es gebe keine verläßlichen Aerzte in Rußland, während es von den vortrefflichsten Medizinern wimmle; so habe er über die Unwirthlichkeit der Hotels geklagt während die Schuld davon auf die russische Gastlichkeit zu schieben ist, welche die Hotels eben so überflüssig mache, als sie in Deutschland vor fünf Jahrhunderten waren. Doch dürfe man auch den russischen Berichtigungen nicht trauen. Gretsch widerlegte, was C über den Bau des Winterpalastes erzählt, durch halbe Wahrheiten. Die Arbeiter waren allerdings bezahlte, aber nichtsdestoweniger gezwun¬ gene Leute. Baron Kleinmichel, Adjutant des Kaisers, leitete den Bau, der so wunderbar schnell, aber mit einem großen Verlust an Menschenleben vollendet wurde. Die Arbeiter wurden nicht auf die ganze Dauer der Bauzeit engagirt; doch wer von ihnen einmal den Palast betreten hatte, wurde nicht wieder herausgelassen ?c. — Was C. so verhaßt, aber auch so bedeutend macht, ist die erschöpfende Energie und Tiefe seiner Darstellung. Darin liegt seine Kraft und das ist es, wodurch er, bei aller feuilletonistischen Reizbarkeit, bei aller scheinbaren Leichtfertigkeit, unsere gründlichen Forscher weit hin¬ ter sich zurückläßt. Man hat es geahnt, tausendmal angedeutet und behauptet jetzt es schon gekannt zu haben, aber Niemand vor ihm hat es so im innersten Nerv getroffen: das in leichtsinniger Sicherheit verachtete, aus Instinkt gehaßte, von Gedankenlosen um seines äußern Glanzes willen angebetete, räthselhafte russische Wesen. Wie russischer Fortschritt und russische Barbarei brüderlich mit einander gehen kön¬ nen, wie der Zwiespalt zwischen exotischer Cultur und heimischer Roh¬ heit so lange ungelöst bleiben kann, sollte freilich Niemand ein Räth¬ sel sein; aber doch hat erst Custine Rußland als das schlagendste Bei¬ spiel für die Lehre aufgestellt: daß das schlaueste Cabinet kein Botts- «rzieher, kein Gesetzgeber und kein Schöpfer sein kann. — Wer die bekannten Correspondenzen aus Berlin, die von derselben Feder für die Deutsche Allgemeine und die Bremer Zeitung geschrieben werden, verfolgt hat, wird erkennen, daß man von Custine lernen kann. — Privatbriefe aus dem Kirchenstaate (von denen die deutschen Zeitungen schweigen) berichten von der Verurtheilung der bei der letz¬ ten Revolte in der Romagna Gefangenen. Wie gewöhnlich gelang

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/737>, abgerufen am 28.09.2024.