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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Man muß oft den harten Ausspruch hören, der Berliner Pöbel
sei. unter allen Pöbelsorten einer der entartetsten. Wenn dieser Aus¬
spruch wirklich begründet sein sollte, so muß man fragen: Wie hat
sich diese Verderbtheit in einer Stadt, die unter den europäischen
Großstädten eine der jüngsten ist, so schnell und üppig herangebildet?
Die frommen Quacksalber sind mit ihrer Universalursache gleich bei
der Hand: Berlin hat zu wenig Religiosität! schreien sie. Es sind
zu wenig Kirchen da, die Sonntagsfeier ist zu wenig streng. Mehr
Frühgottesdienste, mehr Nachmittagspredigten, strengere Ehe- uno
Sittengesetze -- mehr Einfluß der Geistlichkeit in das Familienleben
und wie die wohlfeilen Anweisungen auf Jenseits alle heißen. --
Diese heiligen Speculanten, die jetzt eine so laute Stimme führen,
möchten in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert ein ähnliches
Mittel gebrauchen, wie Law im achtzehnten Jahrhundert in Frank¬
reich: Mississippi-Actien möchten sie in Umlauf setzen, Anweisun¬
gen auf die Herrlichkeiten und Reichthümer einer anderen Welt,
und das letzte Gut, das dem Armen noch übrig bleibt, das Bischen
irdische Heiterkeit und Lust, das er nach der ermüdenden Tageö-
und Wochenarbeit noch besitzt, als Zahlung an sich reißen. Sie ver¬
gessen, diese heiligen Finanzminister des lieben Herrgotts, daß jenes
unglückselige System von Law die Revolution beschleunigt, wo nicht
gar herbeigeführt hat. Die Reaction bleibt nie aus bei überspannten
Mitteln. Bußtage hat das Volk genug, Freudentage aber hat es
wenig! Fasten ist ein gutes Mittel, den kranken Magen zu heilen,
aber nur durch Nahrung erhält man den gesunden. Ihr, die Ihr
so leicht mit der Kasteiung bei der Hand seid, habt Ihr denn auch
für die Vergnügungen des Volkes gesorgt?


Grenzboten 18"i. >. 91
Berli»» und die unteren VoltsAassen^



Man muß oft den harten Ausspruch hören, der Berliner Pöbel
sei. unter allen Pöbelsorten einer der entartetsten. Wenn dieser Aus¬
spruch wirklich begründet sein sollte, so muß man fragen: Wie hat
sich diese Verderbtheit in einer Stadt, die unter den europäischen
Großstädten eine der jüngsten ist, so schnell und üppig herangebildet?
Die frommen Quacksalber sind mit ihrer Universalursache gleich bei
der Hand: Berlin hat zu wenig Religiosität! schreien sie. Es sind
zu wenig Kirchen da, die Sonntagsfeier ist zu wenig streng. Mehr
Frühgottesdienste, mehr Nachmittagspredigten, strengere Ehe- uno
Sittengesetze — mehr Einfluß der Geistlichkeit in das Familienleben
und wie die wohlfeilen Anweisungen auf Jenseits alle heißen. —
Diese heiligen Speculanten, die jetzt eine so laute Stimme führen,
möchten in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert ein ähnliches
Mittel gebrauchen, wie Law im achtzehnten Jahrhundert in Frank¬
reich: Mississippi-Actien möchten sie in Umlauf setzen, Anweisun¬
gen auf die Herrlichkeiten und Reichthümer einer anderen Welt,
und das letzte Gut, das dem Armen noch übrig bleibt, das Bischen
irdische Heiterkeit und Lust, das er nach der ermüdenden Tageö-
und Wochenarbeit noch besitzt, als Zahlung an sich reißen. Sie ver¬
gessen, diese heiligen Finanzminister des lieben Herrgotts, daß jenes
unglückselige System von Law die Revolution beschleunigt, wo nicht
gar herbeigeführt hat. Die Reaction bleibt nie aus bei überspannten
Mitteln. Bußtage hat das Volk genug, Freudentage aber hat es
wenig! Fasten ist ein gutes Mittel, den kranken Magen zu heilen,
aber nur durch Nahrung erhält man den gesunden. Ihr, die Ihr
so leicht mit der Kasteiung bei der Hand seid, habt Ihr denn auch
für die Vergnügungen des Volkes gesorgt?


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[0709] Berli»» und die unteren VoltsAassen^ Man muß oft den harten Ausspruch hören, der Berliner Pöbel sei. unter allen Pöbelsorten einer der entartetsten. Wenn dieser Aus¬ spruch wirklich begründet sein sollte, so muß man fragen: Wie hat sich diese Verderbtheit in einer Stadt, die unter den europäischen Großstädten eine der jüngsten ist, so schnell und üppig herangebildet? Die frommen Quacksalber sind mit ihrer Universalursache gleich bei der Hand: Berlin hat zu wenig Religiosität! schreien sie. Es sind zu wenig Kirchen da, die Sonntagsfeier ist zu wenig streng. Mehr Frühgottesdienste, mehr Nachmittagspredigten, strengere Ehe- uno Sittengesetze — mehr Einfluß der Geistlichkeit in das Familienleben und wie die wohlfeilen Anweisungen auf Jenseits alle heißen. — Diese heiligen Speculanten, die jetzt eine so laute Stimme führen, möchten in Deutschland im neunzehnten Jahrhundert ein ähnliches Mittel gebrauchen, wie Law im achtzehnten Jahrhundert in Frank¬ reich: Mississippi-Actien möchten sie in Umlauf setzen, Anweisun¬ gen auf die Herrlichkeiten und Reichthümer einer anderen Welt, und das letzte Gut, das dem Armen noch übrig bleibt, das Bischen irdische Heiterkeit und Lust, das er nach der ermüdenden Tageö- und Wochenarbeit noch besitzt, als Zahlung an sich reißen. Sie ver¬ gessen, diese heiligen Finanzminister des lieben Herrgotts, daß jenes unglückselige System von Law die Revolution beschleunigt, wo nicht gar herbeigeführt hat. Die Reaction bleibt nie aus bei überspannten Mitteln. Bußtage hat das Volk genug, Freudentage aber hat es wenig! Fasten ist ein gutes Mittel, den kranken Magen zu heilen, aber nur durch Nahrung erhält man den gesunden. Ihr, die Ihr so leicht mit der Kasteiung bei der Hand seid, habt Ihr denn auch für die Vergnügungen des Volkes gesorgt? Grenzboten 18«i. >. 91

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/709>, abgerufen am 23.12.2024.