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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Indessen überzeugte ich mich bald, daß jene Eultoren der Schön¬
heit keine Arbeiter waren. Es war ein Zug theils festtäglich, theils
ziemlich unordentlich gekleideter Leute, der mit Kreuzen und Fahnen
an der Spitze durch die üppigen, der fleißigen Menschenhand har¬
renden Felder wallte. Prozessionen der Art sieht man öfters hier zu
Lande, besonders in der sogenannten Bittwoche vor Pfingsten, und
diese sind wirklich etwas recht Erweckliches. Sie werden in der Mor¬
genstunde gefeiert, mit Dankgebeten in der Zeit der Fülle, mit flehen¬
den in der Zeit der Noth; und ihre Theilnehmer gehen darnach
frisch gestärkt und erquickt an ihre Tagesarbeit. Heute aber sah ich
den Sängern und Betern sogleich an, daß sie weiterher und weiter¬
hin wanderten. Sie trugen zum Theile Bündel mit Reisegeräthen,
die Frauen gingen aufgeschürzt, und die ganze Truppe zeigte selbst bei
den Geputzteren den Charakter nomadischer Unordnung. Sie bestand
aus Walldürer n, aus Wallfahrern, die in der Wetterau und am
Maine unter diesem, von ihrem Wallfahrtsorte hergenommenen Na¬
men allbekannt sind. Zu gewissen Jahreszeiten verlassen einige alte,
aber mehrere junge, kräftige Leute beider Geschlechter (wohl nicht ohne
dualistische Triebfedern) ihre Wohnorte, nehmen ihre Sünden und
einiges Reisegepäck aus den Rücken, vermehren manchmal erstere un¬
terwegs und vermindern jedesmal letzteres; auf dem Rückwege aber
fühlen sie sich von ersteren völlig erlöst. Das ist eben der Humor
davon! Was schadet es, wenn indeß so viele junge Arme der Ar¬
beit, die ja in Mitte Junis vor der Ernte nicht pressirt, Wochen
lang entzogen werden, und eine nicht unbedeutende Summe Geldes
der Heimath und den: eigenen Hause. Ein Minimum der letzteren
ist jeder Walldürer mitzunehmen verpflichtet, zum Theil aus sehr ver¬
nünftigen Gründen. Während Sohn und Tochter draußen beten,
fasten vielleicht die Eltern; aber "wenn ich's opfere, ist Dir's viel
nützer!" Was sagen Pascha und Mufti dazu? Die Ortsgeistlichen
wenigstens mißbilligen diese Erscheinung häusig, theils aus bürger¬
lichen und rein religiösen, theils aus Priesterlichen Gründen, denn
ihr Segen muß ja kraftlos sein, wenn ihre Beichtkinder einen ande¬
ren suchen.

Ja, wenn eine fromme, bedrückte, leidende Seele sammt ihrem
Körper auf eine Zeit lang die Umgebungen verläßt, an welchen tau¬
sendfacher Schmerz für sie haftet, um ungestört an einem friedlichen,


Grenzboten 184". l.

Indessen überzeugte ich mich bald, daß jene Eultoren der Schön¬
heit keine Arbeiter waren. Es war ein Zug theils festtäglich, theils
ziemlich unordentlich gekleideter Leute, der mit Kreuzen und Fahnen
an der Spitze durch die üppigen, der fleißigen Menschenhand har¬
renden Felder wallte. Prozessionen der Art sieht man öfters hier zu
Lande, besonders in der sogenannten Bittwoche vor Pfingsten, und
diese sind wirklich etwas recht Erweckliches. Sie werden in der Mor¬
genstunde gefeiert, mit Dankgebeten in der Zeit der Fülle, mit flehen¬
den in der Zeit der Noth; und ihre Theilnehmer gehen darnach
frisch gestärkt und erquickt an ihre Tagesarbeit. Heute aber sah ich
den Sängern und Betern sogleich an, daß sie weiterher und weiter¬
hin wanderten. Sie trugen zum Theile Bündel mit Reisegeräthen,
die Frauen gingen aufgeschürzt, und die ganze Truppe zeigte selbst bei
den Geputzteren den Charakter nomadischer Unordnung. Sie bestand
aus Walldürer n, aus Wallfahrern, die in der Wetterau und am
Maine unter diesem, von ihrem Wallfahrtsorte hergenommenen Na¬
men allbekannt sind. Zu gewissen Jahreszeiten verlassen einige alte,
aber mehrere junge, kräftige Leute beider Geschlechter (wohl nicht ohne
dualistische Triebfedern) ihre Wohnorte, nehmen ihre Sünden und
einiges Reisegepäck aus den Rücken, vermehren manchmal erstere un¬
terwegs und vermindern jedesmal letzteres; auf dem Rückwege aber
fühlen sie sich von ersteren völlig erlöst. Das ist eben der Humor
davon! Was schadet es, wenn indeß so viele junge Arme der Ar¬
beit, die ja in Mitte Junis vor der Ernte nicht pressirt, Wochen
lang entzogen werden, und eine nicht unbedeutende Summe Geldes
der Heimath und den: eigenen Hause. Ein Minimum der letzteren
ist jeder Walldürer mitzunehmen verpflichtet, zum Theil aus sehr ver¬
nünftigen Gründen. Während Sohn und Tochter draußen beten,
fasten vielleicht die Eltern; aber „wenn ich's opfere, ist Dir's viel
nützer!" Was sagen Pascha und Mufti dazu? Die Ortsgeistlichen
wenigstens mißbilligen diese Erscheinung häusig, theils aus bürger¬
lichen und rein religiösen, theils aus Priesterlichen Gründen, denn
ihr Segen muß ja kraftlos sein, wenn ihre Beichtkinder einen ande¬
ren suchen.

Ja, wenn eine fromme, bedrückte, leidende Seele sammt ihrem
Körper auf eine Zeit lang die Umgebungen verläßt, an welchen tau¬
sendfacher Schmerz für sie haftet, um ungestört an einem friedlichen,


Grenzboten 184». l.
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[0621] Indessen überzeugte ich mich bald, daß jene Eultoren der Schön¬ heit keine Arbeiter waren. Es war ein Zug theils festtäglich, theils ziemlich unordentlich gekleideter Leute, der mit Kreuzen und Fahnen an der Spitze durch die üppigen, der fleißigen Menschenhand har¬ renden Felder wallte. Prozessionen der Art sieht man öfters hier zu Lande, besonders in der sogenannten Bittwoche vor Pfingsten, und diese sind wirklich etwas recht Erweckliches. Sie werden in der Mor¬ genstunde gefeiert, mit Dankgebeten in der Zeit der Fülle, mit flehen¬ den in der Zeit der Noth; und ihre Theilnehmer gehen darnach frisch gestärkt und erquickt an ihre Tagesarbeit. Heute aber sah ich den Sängern und Betern sogleich an, daß sie weiterher und weiter¬ hin wanderten. Sie trugen zum Theile Bündel mit Reisegeräthen, die Frauen gingen aufgeschürzt, und die ganze Truppe zeigte selbst bei den Geputzteren den Charakter nomadischer Unordnung. Sie bestand aus Walldürer n, aus Wallfahrern, die in der Wetterau und am Maine unter diesem, von ihrem Wallfahrtsorte hergenommenen Na¬ men allbekannt sind. Zu gewissen Jahreszeiten verlassen einige alte, aber mehrere junge, kräftige Leute beider Geschlechter (wohl nicht ohne dualistische Triebfedern) ihre Wohnorte, nehmen ihre Sünden und einiges Reisegepäck aus den Rücken, vermehren manchmal erstere un¬ terwegs und vermindern jedesmal letzteres; auf dem Rückwege aber fühlen sie sich von ersteren völlig erlöst. Das ist eben der Humor davon! Was schadet es, wenn indeß so viele junge Arme der Ar¬ beit, die ja in Mitte Junis vor der Ernte nicht pressirt, Wochen lang entzogen werden, und eine nicht unbedeutende Summe Geldes der Heimath und den: eigenen Hause. Ein Minimum der letzteren ist jeder Walldürer mitzunehmen verpflichtet, zum Theil aus sehr ver¬ nünftigen Gründen. Während Sohn und Tochter draußen beten, fasten vielleicht die Eltern; aber „wenn ich's opfere, ist Dir's viel nützer!" Was sagen Pascha und Mufti dazu? Die Ortsgeistlichen wenigstens mißbilligen diese Erscheinung häusig, theils aus bürger¬ lichen und rein religiösen, theils aus Priesterlichen Gründen, denn ihr Segen muß ja kraftlos sein, wenn ihre Beichtkinder einen ande¬ ren suchen. Ja, wenn eine fromme, bedrückte, leidende Seele sammt ihrem Körper auf eine Zeit lang die Umgebungen verläßt, an welchen tau¬ sendfacher Schmerz für sie haftet, um ungestört an einem friedlichen, Grenzboten 184». l.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/621>, abgerufen am 29.06.2024.