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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Gespenster im hellen Deutschland,
gesehen von Lorenz Diefenbach.



Fast täglich findet mich die Morgensonne, wenn auch nicht
immer .mrori" musis mnicit, am Arbeitstische. Aber wenn es nun
gar zu schön und lebensfrisch draußen schimmert und weht und tönt:
dann lasse ich oft die Hieroglyphen der uralten Menschen und Völ¬
ker auf dem Tische liegen, unterbreche meine Forschungen und eile
dem reinen, reflenonslosen Genusse der jüngsten Gegenwart in die Arme,
der mich in den reizenden Umgebungen meines Landhauses erwartet.
Ihr Großstädter glaubt wohl kaum, daß das Leben auch auf dem
Lande reich genug ist, um ein ziemlich geräumiges Herz zu füllen, ja
manchmal zu überfüllen.

Eines schönen Sommermorgens ruft mich der Gesang vorüber¬
ziehender Menschen an's Fenster. Gewiß sind es Landleute, die mit
freudig hoffenden Herzen an irgend eine wichtige gemeinsame Arbeit gehen.
Mich freut jede Freude lebender Wesen, am meisten aber die schön
geäußerte Menschenfreude. Je mehr ich den zunehmenden Schön¬
heitssinn, dies Schiboleth der höheren Menschheit, auch im Volke
gewahre, desto mehr glaube ich an den Fortschritt der ganzen
Menschheit; das wahrhaft Schöne ist ja nichts Anderes, als die
würdigste Offenbarung des innerlich Guten in der Außenwelt. Diese
Offenbarung zu erfassen, zu verehren und gar selbst zu Tage zu för¬
dern: dazu gehört immerhin die volle, gesunde Schwungkraft der Seele.
Bleibt nun diese Schwungkraft auch in einem Leben voll Werktage,
wie eben in dem der niederen Stände, rege; so zeigt sie sich recht
als eine göttliche Kraft, die "die seufzende Creatur erlösen" soll.


Gespenster im hellen Deutschland,
gesehen von Lorenz Diefenbach.



Fast täglich findet mich die Morgensonne, wenn auch nicht
immer .mrori» musis mnicit, am Arbeitstische. Aber wenn es nun
gar zu schön und lebensfrisch draußen schimmert und weht und tönt:
dann lasse ich oft die Hieroglyphen der uralten Menschen und Völ¬
ker auf dem Tische liegen, unterbreche meine Forschungen und eile
dem reinen, reflenonslosen Genusse der jüngsten Gegenwart in die Arme,
der mich in den reizenden Umgebungen meines Landhauses erwartet.
Ihr Großstädter glaubt wohl kaum, daß das Leben auch auf dem
Lande reich genug ist, um ein ziemlich geräumiges Herz zu füllen, ja
manchmal zu überfüllen.

Eines schönen Sommermorgens ruft mich der Gesang vorüber¬
ziehender Menschen an's Fenster. Gewiß sind es Landleute, die mit
freudig hoffenden Herzen an irgend eine wichtige gemeinsame Arbeit gehen.
Mich freut jede Freude lebender Wesen, am meisten aber die schön
geäußerte Menschenfreude. Je mehr ich den zunehmenden Schön¬
heitssinn, dies Schiboleth der höheren Menschheit, auch im Volke
gewahre, desto mehr glaube ich an den Fortschritt der ganzen
Menschheit; das wahrhaft Schöne ist ja nichts Anderes, als die
würdigste Offenbarung des innerlich Guten in der Außenwelt. Diese
Offenbarung zu erfassen, zu verehren und gar selbst zu Tage zu för¬
dern: dazu gehört immerhin die volle, gesunde Schwungkraft der Seele.
Bleibt nun diese Schwungkraft auch in einem Leben voll Werktage,
wie eben in dem der niederen Stände, rege; so zeigt sie sich recht
als eine göttliche Kraft, die „die seufzende Creatur erlösen" soll.


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[0620] Gespenster im hellen Deutschland, gesehen von Lorenz Diefenbach. Fast täglich findet mich die Morgensonne, wenn auch nicht immer .mrori» musis mnicit, am Arbeitstische. Aber wenn es nun gar zu schön und lebensfrisch draußen schimmert und weht und tönt: dann lasse ich oft die Hieroglyphen der uralten Menschen und Völ¬ ker auf dem Tische liegen, unterbreche meine Forschungen und eile dem reinen, reflenonslosen Genusse der jüngsten Gegenwart in die Arme, der mich in den reizenden Umgebungen meines Landhauses erwartet. Ihr Großstädter glaubt wohl kaum, daß das Leben auch auf dem Lande reich genug ist, um ein ziemlich geräumiges Herz zu füllen, ja manchmal zu überfüllen. Eines schönen Sommermorgens ruft mich der Gesang vorüber¬ ziehender Menschen an's Fenster. Gewiß sind es Landleute, die mit freudig hoffenden Herzen an irgend eine wichtige gemeinsame Arbeit gehen. Mich freut jede Freude lebender Wesen, am meisten aber die schön geäußerte Menschenfreude. Je mehr ich den zunehmenden Schön¬ heitssinn, dies Schiboleth der höheren Menschheit, auch im Volke gewahre, desto mehr glaube ich an den Fortschritt der ganzen Menschheit; das wahrhaft Schöne ist ja nichts Anderes, als die würdigste Offenbarung des innerlich Guten in der Außenwelt. Diese Offenbarung zu erfassen, zu verehren und gar selbst zu Tage zu för¬ dern: dazu gehört immerhin die volle, gesunde Schwungkraft der Seele. Bleibt nun diese Schwungkraft auch in einem Leben voll Werktage, wie eben in dem der niederen Stände, rege; so zeigt sie sich recht als eine göttliche Kraft, die „die seufzende Creatur erlösen" soll.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/620>, abgerufen am 29.06.2024.