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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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So lange sich unser Aneignungstrieb nicht weiter erstreckt, als
auf das Bestreben, das Nützliche von Anderen an- und aufzunehmen,
können wir nur gewinnen.

Aber leider zeigt sich im geselligen Leben die Affennatur am
stärksten: "Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das haben wir
glücklich abgeguckt," aber Genie und Geist des geselligen Verkehrs
haben wir noch nicht begriffen.

In großen Städten, zumal in Paris und London, mit ihrem
ungeheuren Reichthum, da sind unzählige Mittel zur Unterhaltung
in Gesellschaft geboten. Gemälde, Kupferstiche, Zeichnungen, Bücher,
Merkwürdigkeiten aller Art, Altes und Neues, Antikes und Moder¬
nes aller Wissenschaften und Künste sind wie umhergestreut und die¬
nen zur Anregung, zur Aufheiterung; man sucht eine Welt im Kleinen
um sich zu verbreiten, und wie in einem Panorama das Entfernteste
nahe zu rücken, durch die Kunst die Natur erhöht, durch die Natur die
Kunst belebt zu sehen. Das ist die große Aufgabe ver Gesellschaft,
von der wir Deutschen kaum einen Begriff haben, weil wir sie nur
im Geiste sehen; und dennoch wären wir in unsrer universellen Na¬
tur gerade am geeignetsten, diese Aufgaben zu lösen, wenn wir nicht
durch äußere Hemmnisse, durch Mittellosigkeit, Vorurtheil und Befan¬
genheit und, wie in Allem, durch Mangel an Energie um den schön¬
sten Neiz deS Lebens gebracht wären.

Die noch immer grelle Geschiedenheit der Stände, der Druck der
Verhältnisse, die das ganze Dasein umfassen, in Alles störend und
niederbeugend eingreifen und Vorurtheil, ängstliche Besorgniß, Klein¬
muth und Berechnung in jeden Verkehr bringen, zeigen uns den
Egoismus im grellsten Lichte, und von diesem Gesichtspunkte betrachtet,
steht der Deutsche moralisch niedriger, als der Franzose.

So ist denn Alles der großen politisch-socialen Zeitfrage ver¬
fallen, und wir können auch für die Geselligkeit keine völlig ersprie߬
liche Wendung erwarten, bis sie befriedigend gelöst ist.

Vor Jahren versuchte man in manchen Städten eine liberalere
Art, die Gesellschaft zu beleben. Man benutzte hierzu die Talente der
Künstler und deren geniales und joviales Wesen. Aber bald erkann¬
ten diese, daß sie sich gleichsam zum Hanswurst, oder doch Schau¬
spieler hergaben. Die aristokratische Welt ließ sich wohl einmal grä-


So lange sich unser Aneignungstrieb nicht weiter erstreckt, als
auf das Bestreben, das Nützliche von Anderen an- und aufzunehmen,
können wir nur gewinnen.

Aber leider zeigt sich im geselligen Leben die Affennatur am
stärksten: „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das haben wir
glücklich abgeguckt," aber Genie und Geist des geselligen Verkehrs
haben wir noch nicht begriffen.

In großen Städten, zumal in Paris und London, mit ihrem
ungeheuren Reichthum, da sind unzählige Mittel zur Unterhaltung
in Gesellschaft geboten. Gemälde, Kupferstiche, Zeichnungen, Bücher,
Merkwürdigkeiten aller Art, Altes und Neues, Antikes und Moder¬
nes aller Wissenschaften und Künste sind wie umhergestreut und die¬
nen zur Anregung, zur Aufheiterung; man sucht eine Welt im Kleinen
um sich zu verbreiten, und wie in einem Panorama das Entfernteste
nahe zu rücken, durch die Kunst die Natur erhöht, durch die Natur die
Kunst belebt zu sehen. Das ist die große Aufgabe ver Gesellschaft,
von der wir Deutschen kaum einen Begriff haben, weil wir sie nur
im Geiste sehen; und dennoch wären wir in unsrer universellen Na¬
tur gerade am geeignetsten, diese Aufgaben zu lösen, wenn wir nicht
durch äußere Hemmnisse, durch Mittellosigkeit, Vorurtheil und Befan¬
genheit und, wie in Allem, durch Mangel an Energie um den schön¬
sten Neiz deS Lebens gebracht wären.

Die noch immer grelle Geschiedenheit der Stände, der Druck der
Verhältnisse, die das ganze Dasein umfassen, in Alles störend und
niederbeugend eingreifen und Vorurtheil, ängstliche Besorgniß, Klein¬
muth und Berechnung in jeden Verkehr bringen, zeigen uns den
Egoismus im grellsten Lichte, und von diesem Gesichtspunkte betrachtet,
steht der Deutsche moralisch niedriger, als der Franzose.

So ist denn Alles der großen politisch-socialen Zeitfrage ver¬
fallen, und wir können auch für die Geselligkeit keine völlig ersprie߬
liche Wendung erwarten, bis sie befriedigend gelöst ist.

Vor Jahren versuchte man in manchen Städten eine liberalere
Art, die Gesellschaft zu beleben. Man benutzte hierzu die Talente der
Künstler und deren geniales und joviales Wesen. Aber bald erkann¬
ten diese, daß sie sich gleichsam zum Hanswurst, oder doch Schau¬
spieler hergaben. Die aristokratische Welt ließ sich wohl einmal grä-


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[0616] So lange sich unser Aneignungstrieb nicht weiter erstreckt, als auf das Bestreben, das Nützliche von Anderen an- und aufzunehmen, können wir nur gewinnen. Aber leider zeigt sich im geselligen Leben die Affennatur am stärksten: „Wie er sich räuspert und wie er spuckt, das haben wir glücklich abgeguckt," aber Genie und Geist des geselligen Verkehrs haben wir noch nicht begriffen. In großen Städten, zumal in Paris und London, mit ihrem ungeheuren Reichthum, da sind unzählige Mittel zur Unterhaltung in Gesellschaft geboten. Gemälde, Kupferstiche, Zeichnungen, Bücher, Merkwürdigkeiten aller Art, Altes und Neues, Antikes und Moder¬ nes aller Wissenschaften und Künste sind wie umhergestreut und die¬ nen zur Anregung, zur Aufheiterung; man sucht eine Welt im Kleinen um sich zu verbreiten, und wie in einem Panorama das Entfernteste nahe zu rücken, durch die Kunst die Natur erhöht, durch die Natur die Kunst belebt zu sehen. Das ist die große Aufgabe ver Gesellschaft, von der wir Deutschen kaum einen Begriff haben, weil wir sie nur im Geiste sehen; und dennoch wären wir in unsrer universellen Na¬ tur gerade am geeignetsten, diese Aufgaben zu lösen, wenn wir nicht durch äußere Hemmnisse, durch Mittellosigkeit, Vorurtheil und Befan¬ genheit und, wie in Allem, durch Mangel an Energie um den schön¬ sten Neiz deS Lebens gebracht wären. Die noch immer grelle Geschiedenheit der Stände, der Druck der Verhältnisse, die das ganze Dasein umfassen, in Alles störend und niederbeugend eingreifen und Vorurtheil, ängstliche Besorgniß, Klein¬ muth und Berechnung in jeden Verkehr bringen, zeigen uns den Egoismus im grellsten Lichte, und von diesem Gesichtspunkte betrachtet, steht der Deutsche moralisch niedriger, als der Franzose. So ist denn Alles der großen politisch-socialen Zeitfrage ver¬ fallen, und wir können auch für die Geselligkeit keine völlig ersprie߬ liche Wendung erwarten, bis sie befriedigend gelöst ist. Vor Jahren versuchte man in manchen Städten eine liberalere Art, die Gesellschaft zu beleben. Man benutzte hierzu die Talente der Künstler und deren geniales und joviales Wesen. Aber bald erkann¬ ten diese, daß sie sich gleichsam zum Hanswurst, oder doch Schau¬ spieler hergaben. Die aristokratische Welt ließ sich wohl einmal grä-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/616>, abgerufen am 29.06.2024.