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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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In gleicher Kategorie stehen die Zirkel, in denen noch immer
die Gesellschaftsspiele, sogenannte Mix ä' vsprit, bei denen der Kluge
dumm und der Dumme klug scheinen kann, die alleinige Unterhaltung
ausmachen. In diesen Regionen finden die Männer von 16 und 17
mitunter noch ihre Rechnung.

Wir treffen sogar noch Damenzirkel von 20--30 Damen, die,
unzertrennlich um dem Theetisch gereiht, ihre drei Stunden mit Stoi¬
cismus aushalten, wenn sie auch vor Anstrengung, die Züge in an¬
gemessener Form zu halten, zuweilen mit Gesichtsschmerzen heimkehren.
Die Zeit der Frau Basen ist vorüber, aber auch hier zeigt sich das
Merkmal des Ueberaangs: Haltlosigkeit, Leere. Man raisonnirt nicht
mehr nov minore nachdem alten Styl, aber das Raisonnement nach
dem neuen bietet noch unüberwindliche Schwierigkeiten.

Wir haben Herrenklubs, in denen viel geraucht, viel gespielt, viel ge¬
lesen und kaum etwas gesprochen wird. Oder Trinkgelage, die jeder gei¬
stigen Regung entbehren, oder auch Zusammenkünfte genialer Geister,
die in Ermanglung eines befriedigenderen Strebens im häuslichen
oder geselligen Kreise sich einer zügellosen Ungebundenheit überlassen
und nicht selten die Blüthe im Keim ersticken. Alle einer Anregung
und eines belebenden Verkehrs bedürftige junge Leute finden so we¬
nig Genüge im geselligen Verkehr, daß oft die schönsten Anlagen
eine schädliche Richtung nehmen müssen.

Wir haben zahllose Musikvereine und die Musik gewinnt immer
mehr eine solche Uebermacht, sie verdrängt so sehr jede andere unter¬
haltende Beschäftigung, oder vielmehr sie füllt den leeren Raum so
gewaltig aus, daß der Unmusikalische bald keinen Raum und keine
Geltung mehr finde".

Es wäre thöricht, den wohlthätigen Einfluß der Musik nicht er¬
kennen zu wollen, aber die Musik als Alleinherrscherin ist ein echtes
Charakterzeichen für unsere energielose, niedergedrückte, verflachte Zeit,
in der jede gewaltigere Seelenthätigkeit erlahmt ist; sie tulit uns völlig
ein und erschlafft, was sich noch von bewegender Kraft in uns regt.

Wir bemühen uns so sehr, das inhaltlose poetische Getändel
zu verbannen, vermöchten wir doch auch das musikalische in die
gehörigen Schranken zu verweisen, und die überstiegene Fluth in ihr
natürliches Bett zurück zu leiten. Poesie und Musik sollen erhebe",
nicht ermüden.


In gleicher Kategorie stehen die Zirkel, in denen noch immer
die Gesellschaftsspiele, sogenannte Mix ä' vsprit, bei denen der Kluge
dumm und der Dumme klug scheinen kann, die alleinige Unterhaltung
ausmachen. In diesen Regionen finden die Männer von 16 und 17
mitunter noch ihre Rechnung.

Wir treffen sogar noch Damenzirkel von 20—30 Damen, die,
unzertrennlich um dem Theetisch gereiht, ihre drei Stunden mit Stoi¬
cismus aushalten, wenn sie auch vor Anstrengung, die Züge in an¬
gemessener Form zu halten, zuweilen mit Gesichtsschmerzen heimkehren.
Die Zeit der Frau Basen ist vorüber, aber auch hier zeigt sich das
Merkmal des Ueberaangs: Haltlosigkeit, Leere. Man raisonnirt nicht
mehr nov minore nachdem alten Styl, aber das Raisonnement nach
dem neuen bietet noch unüberwindliche Schwierigkeiten.

Wir haben Herrenklubs, in denen viel geraucht, viel gespielt, viel ge¬
lesen und kaum etwas gesprochen wird. Oder Trinkgelage, die jeder gei¬
stigen Regung entbehren, oder auch Zusammenkünfte genialer Geister,
die in Ermanglung eines befriedigenderen Strebens im häuslichen
oder geselligen Kreise sich einer zügellosen Ungebundenheit überlassen
und nicht selten die Blüthe im Keim ersticken. Alle einer Anregung
und eines belebenden Verkehrs bedürftige junge Leute finden so we¬
nig Genüge im geselligen Verkehr, daß oft die schönsten Anlagen
eine schädliche Richtung nehmen müssen.

Wir haben zahllose Musikvereine und die Musik gewinnt immer
mehr eine solche Uebermacht, sie verdrängt so sehr jede andere unter¬
haltende Beschäftigung, oder vielmehr sie füllt den leeren Raum so
gewaltig aus, daß der Unmusikalische bald keinen Raum und keine
Geltung mehr finde«.

Es wäre thöricht, den wohlthätigen Einfluß der Musik nicht er¬
kennen zu wollen, aber die Musik als Alleinherrscherin ist ein echtes
Charakterzeichen für unsere energielose, niedergedrückte, verflachte Zeit,
in der jede gewaltigere Seelenthätigkeit erlahmt ist; sie tulit uns völlig
ein und erschlafft, was sich noch von bewegender Kraft in uns regt.

Wir bemühen uns so sehr, das inhaltlose poetische Getändel
zu verbannen, vermöchten wir doch auch das musikalische in die
gehörigen Schranken zu verweisen, und die überstiegene Fluth in ihr
natürliches Bett zurück zu leiten. Poesie und Musik sollen erhebe»,
nicht ermüden.


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[0614] In gleicher Kategorie stehen die Zirkel, in denen noch immer die Gesellschaftsspiele, sogenannte Mix ä' vsprit, bei denen der Kluge dumm und der Dumme klug scheinen kann, die alleinige Unterhaltung ausmachen. In diesen Regionen finden die Männer von 16 und 17 mitunter noch ihre Rechnung. Wir treffen sogar noch Damenzirkel von 20—30 Damen, die, unzertrennlich um dem Theetisch gereiht, ihre drei Stunden mit Stoi¬ cismus aushalten, wenn sie auch vor Anstrengung, die Züge in an¬ gemessener Form zu halten, zuweilen mit Gesichtsschmerzen heimkehren. Die Zeit der Frau Basen ist vorüber, aber auch hier zeigt sich das Merkmal des Ueberaangs: Haltlosigkeit, Leere. Man raisonnirt nicht mehr nov minore nachdem alten Styl, aber das Raisonnement nach dem neuen bietet noch unüberwindliche Schwierigkeiten. Wir haben Herrenklubs, in denen viel geraucht, viel gespielt, viel ge¬ lesen und kaum etwas gesprochen wird. Oder Trinkgelage, die jeder gei¬ stigen Regung entbehren, oder auch Zusammenkünfte genialer Geister, die in Ermanglung eines befriedigenderen Strebens im häuslichen oder geselligen Kreise sich einer zügellosen Ungebundenheit überlassen und nicht selten die Blüthe im Keim ersticken. Alle einer Anregung und eines belebenden Verkehrs bedürftige junge Leute finden so we¬ nig Genüge im geselligen Verkehr, daß oft die schönsten Anlagen eine schädliche Richtung nehmen müssen. Wir haben zahllose Musikvereine und die Musik gewinnt immer mehr eine solche Uebermacht, sie verdrängt so sehr jede andere unter¬ haltende Beschäftigung, oder vielmehr sie füllt den leeren Raum so gewaltig aus, daß der Unmusikalische bald keinen Raum und keine Geltung mehr finde«. Es wäre thöricht, den wohlthätigen Einfluß der Musik nicht er¬ kennen zu wollen, aber die Musik als Alleinherrscherin ist ein echtes Charakterzeichen für unsere energielose, niedergedrückte, verflachte Zeit, in der jede gewaltigere Seelenthätigkeit erlahmt ist; sie tulit uns völlig ein und erschlafft, was sich noch von bewegender Kraft in uns regt. Wir bemühen uns so sehr, das inhaltlose poetische Getändel zu verbannen, vermöchten wir doch auch das musikalische in die gehörigen Schranken zu verweisen, und die überstiegene Fluth in ihr natürliches Bett zurück zu leiten. Poesie und Musik sollen erhebe», nicht ermüden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/614>, abgerufen am 29.06.2024.