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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Familie (ein Anverwandter des Banquierhauses Arnstein und Eskeles)
aber längst getauft. Er ist nach Paris gegangen, soll aber nicht ver¬
folgt worden sein, da der vorgefundene Brief, in welchem auf einen
Selbstmord hingedeutet wird, den Lauf der Gesetze hemmte. ^

Dieses Duell und die neu eingetretene italienische Oper bilden
den Mittelpunkt der Konversation dieses Monats. Das erste Debüt
der Italiener war nicht glücklich, und wie sehr auch das Publicum
in seinem lang erwarteten und theuer bezahlten Vergnügen gestört
wurde, konnte es doch eine gewisse Schadenfreude gegen den Pachter,
den bürgerlichen Schneidermeister Balochino, nicht unterdrücken, dem
es statt des geistigen und künstlerischen Theils der Oper gerne jenen
anvertraut wissen möchte, der seiner Bildung und seinem Geschmack
bei Weitem mehr entspräche, nämlich den Zuschnitt der Garderobe.
Sein Geiz und seine Kunstgesinnung werden in Wien durch "balo-
chinisch" bezeichnet. Man freut sich allgemein seines zu Ende lau¬
fenden Contractes, namentlich da die hohen adeligen Kreise, die ihn
bisher hielten, mit dem längst herrschenden Urtheil des großen Pub-
licums endlich übereinstimmen.

In den literarischen Kreisen macht ein Gedicht von Grillparzer,
welches im Manuscript circulirt, Aufsehen. Es ist betitelt: Euri-
pides in Berlin und geißelt die Manie, die jetzt in Berlin gras-
sirt, mit strengen Worten. Euripides sagt darin zu den Berlinern:

Wenn anders ich in meinen Tagen sang,
Als Aeschylus (erreichbar wohl für Keinen)
War's, weil ein andres Echo mir erklang
Aus meiner Hörer Brust, als ihm aus seinen.
Und Ihr, nach zwei Jahrtausend Unterschied
Das Widerspiel von meines Volkes Leben,
Wollt, was das Wissen Euch verdeutlicht kaum,
Dem Mitgefühl als weise Nahrung geben?

Ich wage nicht, Ihnen mehr daraus mitzutheilen, da. Grillpar¬
zer sich weigert, das Gedicht drucken zu lassen wegen einer scharfen
Stelle, die darin gegen Tieck vorkommt, den er öffentlich nicht
kränken will aus Rücksicht für sein Alter. Der Schluß des Gedich¬
tes lautet:

Wer "eben schafft, das seine" Zeit gehört,
Wär's auch im Raum und durch die Zeit begrenzter,
That mehr als wer zum Sabbath aufbcschwort
Die Schatten von Gespenstern für Gespenster.

Sie sehen, der Dichter der Ahnfrau und des Ottokar, obschon
er bereits zwei und fünfzig Jahre zählt, gehört in Gesinnung und
Liebe der Jugend und ihren Bestrebungen an und er, der in Sappho
und Medea den Alten Tribut gezahlt, statt zum griesgrämiger Straft


Familie (ein Anverwandter des Banquierhauses Arnstein und Eskeles)
aber längst getauft. Er ist nach Paris gegangen, soll aber nicht ver¬
folgt worden sein, da der vorgefundene Brief, in welchem auf einen
Selbstmord hingedeutet wird, den Lauf der Gesetze hemmte. ^

Dieses Duell und die neu eingetretene italienische Oper bilden
den Mittelpunkt der Konversation dieses Monats. Das erste Debüt
der Italiener war nicht glücklich, und wie sehr auch das Publicum
in seinem lang erwarteten und theuer bezahlten Vergnügen gestört
wurde, konnte es doch eine gewisse Schadenfreude gegen den Pachter,
den bürgerlichen Schneidermeister Balochino, nicht unterdrücken, dem
es statt des geistigen und künstlerischen Theils der Oper gerne jenen
anvertraut wissen möchte, der seiner Bildung und seinem Geschmack
bei Weitem mehr entspräche, nämlich den Zuschnitt der Garderobe.
Sein Geiz und seine Kunstgesinnung werden in Wien durch „balo-
chinisch" bezeichnet. Man freut sich allgemein seines zu Ende lau¬
fenden Contractes, namentlich da die hohen adeligen Kreise, die ihn
bisher hielten, mit dem längst herrschenden Urtheil des großen Pub-
licums endlich übereinstimmen.

In den literarischen Kreisen macht ein Gedicht von Grillparzer,
welches im Manuscript circulirt, Aufsehen. Es ist betitelt: Euri-
pides in Berlin und geißelt die Manie, die jetzt in Berlin gras-
sirt, mit strengen Worten. Euripides sagt darin zu den Berlinern:

Wenn anders ich in meinen Tagen sang,
Als Aeschylus (erreichbar wohl für Keinen)
War's, weil ein andres Echo mir erklang
Aus meiner Hörer Brust, als ihm aus seinen.
Und Ihr, nach zwei Jahrtausend Unterschied
Das Widerspiel von meines Volkes Leben,
Wollt, was das Wissen Euch verdeutlicht kaum,
Dem Mitgefühl als weise Nahrung geben?

Ich wage nicht, Ihnen mehr daraus mitzutheilen, da. Grillpar¬
zer sich weigert, das Gedicht drucken zu lassen wegen einer scharfen
Stelle, die darin gegen Tieck vorkommt, den er öffentlich nicht
kränken will aus Rücksicht für sein Alter. Der Schluß des Gedich¬
tes lautet:

Wer «eben schafft, das seine« Zeit gehört,
Wär's auch im Raum und durch die Zeit begrenzter,
That mehr als wer zum Sabbath aufbcschwort
Die Schatten von Gespenstern für Gespenster.

Sie sehen, der Dichter der Ahnfrau und des Ottokar, obschon
er bereits zwei und fünfzig Jahre zählt, gehört in Gesinnung und
Liebe der Jugend und ihren Bestrebungen an und er, der in Sappho
und Medea den Alten Tribut gezahlt, statt zum griesgrämiger Straft


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[0576] Familie (ein Anverwandter des Banquierhauses Arnstein und Eskeles) aber längst getauft. Er ist nach Paris gegangen, soll aber nicht ver¬ folgt worden sein, da der vorgefundene Brief, in welchem auf einen Selbstmord hingedeutet wird, den Lauf der Gesetze hemmte. ^ Dieses Duell und die neu eingetretene italienische Oper bilden den Mittelpunkt der Konversation dieses Monats. Das erste Debüt der Italiener war nicht glücklich, und wie sehr auch das Publicum in seinem lang erwarteten und theuer bezahlten Vergnügen gestört wurde, konnte es doch eine gewisse Schadenfreude gegen den Pachter, den bürgerlichen Schneidermeister Balochino, nicht unterdrücken, dem es statt des geistigen und künstlerischen Theils der Oper gerne jenen anvertraut wissen möchte, der seiner Bildung und seinem Geschmack bei Weitem mehr entspräche, nämlich den Zuschnitt der Garderobe. Sein Geiz und seine Kunstgesinnung werden in Wien durch „balo- chinisch" bezeichnet. Man freut sich allgemein seines zu Ende lau¬ fenden Contractes, namentlich da die hohen adeligen Kreise, die ihn bisher hielten, mit dem längst herrschenden Urtheil des großen Pub- licums endlich übereinstimmen. In den literarischen Kreisen macht ein Gedicht von Grillparzer, welches im Manuscript circulirt, Aufsehen. Es ist betitelt: Euri- pides in Berlin und geißelt die Manie, die jetzt in Berlin gras- sirt, mit strengen Worten. Euripides sagt darin zu den Berlinern: Wenn anders ich in meinen Tagen sang, Als Aeschylus (erreichbar wohl für Keinen) War's, weil ein andres Echo mir erklang Aus meiner Hörer Brust, als ihm aus seinen. Und Ihr, nach zwei Jahrtausend Unterschied Das Widerspiel von meines Volkes Leben, Wollt, was das Wissen Euch verdeutlicht kaum, Dem Mitgefühl als weise Nahrung geben? Ich wage nicht, Ihnen mehr daraus mitzutheilen, da. Grillpar¬ zer sich weigert, das Gedicht drucken zu lassen wegen einer scharfen Stelle, die darin gegen Tieck vorkommt, den er öffentlich nicht kränken will aus Rücksicht für sein Alter. Der Schluß des Gedich¬ tes lautet: Wer «eben schafft, das seine« Zeit gehört, Wär's auch im Raum und durch die Zeit begrenzter, That mehr als wer zum Sabbath aufbcschwort Die Schatten von Gespenstern für Gespenster. Sie sehen, der Dichter der Ahnfrau und des Ottokar, obschon er bereits zwei und fünfzig Jahre zählt, gehört in Gesinnung und Liebe der Jugend und ihren Bestrebungen an und er, der in Sappho und Medea den Alten Tribut gezahlt, statt zum griesgrämiger Straft

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/576>, abgerufen am 29.06.2024.