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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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neu. Der Roman ist die einzige Dichtungsart, die: jederzeit ein
allgemeines Bedürfnis; befriedigt; der Kunstroman war Rococo ge¬
worden; der historische hat bei uns nie geblüht; der Roman "aus
der Gesellschaft" schien der einzig mögliche, und so kamen einige vor¬
nehm geistreiche Frauen zu dem Monopol auf die Lieferung unter¬
haltender Lectüre. Auf eine genauere Zeichnung dieser Literaturhel¬
dinnen kann ich mich erst in einem folgenden Artikel einlassen. Nur
so viel für den Augenblick. Die drei bedeutendsten Erzählerinnen "aus
der Gesellschaft" sind natürlich alle aristokratisch, lassen aber doch das
moderne Element, durch welches sie überhaupt Schriftstellerinnen wur¬
den, mehr oder minder durchschimmern. Frau von Paalzow ist kon¬
servativ, hausmütterlich nach Art gewisser bürgerthümlicher Höfe, solid,
Centrum; Gräfin Hahn-Hahn, malcontent nach oben und unten,
aristokratisch-liberal, halb Pückler, halb Lichnowski, torystische Linke;
die Verfasserin von "Schloß Goczyn" dagegen ist beinahe socialistisch
in aristokratischen Formen, und gehört weder der Rechten noch der
Linken an. Die künstlerischen Lichter und Schatten hängen bei allen
Dreien mit diesen Richtungen zusammen. Die beiden letzteren Da¬
men schreiben übrigens einen so eöpritfunkelnden, damascirten Styl
und coquettiren so glücklich mit ihrer subjectiven Weltanschauung,
daß mair darauf schwören kann, sie sind mehr als eine Nacht mit
Heine's Reisebildern, der Lelia und dem jungen Europa zu Bette
gegangen.

Allein auch da unterscheidet sich die Goczyn -- wir "vollen.sie
kurz bei diesem Namen nennen -- von ihrer berühmten Schwester
in Apoll sehr vortheilhaft; ihre Reflexion ist nicht so schneidend, ihre
Betrachtung fließt nicht so sehr ans geistreichiger Streit- und Origi¬
nalitätssucht, als aus echt lyrischer Gemüthsbewegung. Die Goczyn
hat in ihre Novellen eine Reihe von Gedichten eingestreut, die uns
berechtigen, sie zu unseren besten lyrischen Talenten zu zählen. Was
dieser Lyrik besonderen Reiz verleiht, ist das byron'sche Echo, das wir
heraushören. In diesem Zuge erinnert die Goczyn sehr lebhaft an die
geniale Betty Paoli, deren Lieder noch größere Kühnheit des
Geistes und eine Gluth der Empfindung athmen, zu der sich selten
der weibliche Vers erhebt. Ein Nachklang von Byron's Sturm-
klängen zittert ohnehin seit lange durch die lebendigsten Wipfel
deutscher Literatur und hat noch nicht auögczittcrt. Aber nirgends


neu. Der Roman ist die einzige Dichtungsart, die: jederzeit ein
allgemeines Bedürfnis; befriedigt; der Kunstroman war Rococo ge¬
worden; der historische hat bei uns nie geblüht; der Roman „aus
der Gesellschaft" schien der einzig mögliche, und so kamen einige vor¬
nehm geistreiche Frauen zu dem Monopol auf die Lieferung unter¬
haltender Lectüre. Auf eine genauere Zeichnung dieser Literaturhel¬
dinnen kann ich mich erst in einem folgenden Artikel einlassen. Nur
so viel für den Augenblick. Die drei bedeutendsten Erzählerinnen „aus
der Gesellschaft" sind natürlich alle aristokratisch, lassen aber doch das
moderne Element, durch welches sie überhaupt Schriftstellerinnen wur¬
den, mehr oder minder durchschimmern. Frau von Paalzow ist kon¬
servativ, hausmütterlich nach Art gewisser bürgerthümlicher Höfe, solid,
Centrum; Gräfin Hahn-Hahn, malcontent nach oben und unten,
aristokratisch-liberal, halb Pückler, halb Lichnowski, torystische Linke;
die Verfasserin von „Schloß Goczyn" dagegen ist beinahe socialistisch
in aristokratischen Formen, und gehört weder der Rechten noch der
Linken an. Die künstlerischen Lichter und Schatten hängen bei allen
Dreien mit diesen Richtungen zusammen. Die beiden letzteren Da¬
men schreiben übrigens einen so eöpritfunkelnden, damascirten Styl
und coquettiren so glücklich mit ihrer subjectiven Weltanschauung,
daß mair darauf schwören kann, sie sind mehr als eine Nacht mit
Heine's Reisebildern, der Lelia und dem jungen Europa zu Bette
gegangen.

Allein auch da unterscheidet sich die Goczyn — wir »vollen.sie
kurz bei diesem Namen nennen — von ihrer berühmten Schwester
in Apoll sehr vortheilhaft; ihre Reflexion ist nicht so schneidend, ihre
Betrachtung fließt nicht so sehr ans geistreichiger Streit- und Origi¬
nalitätssucht, als aus echt lyrischer Gemüthsbewegung. Die Goczyn
hat in ihre Novellen eine Reihe von Gedichten eingestreut, die uns
berechtigen, sie zu unseren besten lyrischen Talenten zu zählen. Was
dieser Lyrik besonderen Reiz verleiht, ist das byron'sche Echo, das wir
heraushören. In diesem Zuge erinnert die Goczyn sehr lebhaft an die
geniale Betty Paoli, deren Lieder noch größere Kühnheit des
Geistes und eine Gluth der Empfindung athmen, zu der sich selten
der weibliche Vers erhebt. Ein Nachklang von Byron's Sturm-
klängen zittert ohnehin seit lange durch die lebendigsten Wipfel
deutscher Literatur und hat noch nicht auögczittcrt. Aber nirgends


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[0553] neu. Der Roman ist die einzige Dichtungsart, die: jederzeit ein allgemeines Bedürfnis; befriedigt; der Kunstroman war Rococo ge¬ worden; der historische hat bei uns nie geblüht; der Roman „aus der Gesellschaft" schien der einzig mögliche, und so kamen einige vor¬ nehm geistreiche Frauen zu dem Monopol auf die Lieferung unter¬ haltender Lectüre. Auf eine genauere Zeichnung dieser Literaturhel¬ dinnen kann ich mich erst in einem folgenden Artikel einlassen. Nur so viel für den Augenblick. Die drei bedeutendsten Erzählerinnen „aus der Gesellschaft" sind natürlich alle aristokratisch, lassen aber doch das moderne Element, durch welches sie überhaupt Schriftstellerinnen wur¬ den, mehr oder minder durchschimmern. Frau von Paalzow ist kon¬ servativ, hausmütterlich nach Art gewisser bürgerthümlicher Höfe, solid, Centrum; Gräfin Hahn-Hahn, malcontent nach oben und unten, aristokratisch-liberal, halb Pückler, halb Lichnowski, torystische Linke; die Verfasserin von „Schloß Goczyn" dagegen ist beinahe socialistisch in aristokratischen Formen, und gehört weder der Rechten noch der Linken an. Die künstlerischen Lichter und Schatten hängen bei allen Dreien mit diesen Richtungen zusammen. Die beiden letzteren Da¬ men schreiben übrigens einen so eöpritfunkelnden, damascirten Styl und coquettiren so glücklich mit ihrer subjectiven Weltanschauung, daß mair darauf schwören kann, sie sind mehr als eine Nacht mit Heine's Reisebildern, der Lelia und dem jungen Europa zu Bette gegangen. Allein auch da unterscheidet sich die Goczyn — wir »vollen.sie kurz bei diesem Namen nennen — von ihrer berühmten Schwester in Apoll sehr vortheilhaft; ihre Reflexion ist nicht so schneidend, ihre Betrachtung fließt nicht so sehr ans geistreichiger Streit- und Origi¬ nalitätssucht, als aus echt lyrischer Gemüthsbewegung. Die Goczyn hat in ihre Novellen eine Reihe von Gedichten eingestreut, die uns berechtigen, sie zu unseren besten lyrischen Talenten zu zählen. Was dieser Lyrik besonderen Reiz verleiht, ist das byron'sche Echo, das wir heraushören. In diesem Zuge erinnert die Goczyn sehr lebhaft an die geniale Betty Paoli, deren Lieder noch größere Kühnheit des Geistes und eine Gluth der Empfindung athmen, zu der sich selten der weibliche Vers erhebt. Ein Nachklang von Byron's Sturm- klängen zittert ohnehin seit lange durch die lebendigsten Wipfel deutscher Literatur und hat noch nicht auögczittcrt. Aber nirgends

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/553>, abgerufen am 29.06.2024.