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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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richtigungsfeder zu bestreiten oder zu rechtfertigen. Wie kommt es,
daß gerade das russische Verfahren gegen die Juden in deutschen
Zeitungen so viel beschönigende Federn findet? Ist die Harte gegen
die Juden unwahrscheinlicher als die gegen das unglückliche Polen?
Denken die Correspondenten von der russischen Grenze in dieser An¬
gelegenheit leichter Glauben zu finden ? Speculiren sie vielleicht auf
das Vorurtheil gegen die Juden? Da würden sie sich sehr täuschen.
Ein Vorurtheil, das so weit ginge, um das Ohr für die Stimme
der Menschlichkeit zu betäuben, gibt es nicht mehr in Deutschland.
Das Wort: Judenhaß ist vielmehr ein Vorwurf geworden, dessen sich
selbst die eifrigsten Gegner der Judenemancipation schämen und den
sie lebhaft von sich abzuwehren suchen. Das civilisirte Europa sieht
mit Unwillen in dem Schauspiel russischer Judenbedrückung ein Spiegel¬
bild eigener barbarischer Vorzeit. Doch sind noch große Unähnlich-
keiten in diesem Bilde. Die schrecklichsten Judenverfolgungen früherer
Zeit gingen fast nie von Fristen und Regierungen aus, oder sie wur¬
den ihnen durch einen fanatischen Clerus, durch den 'Aberglauben des
Pöbels, durch den blinden Haß und Terrorismus des Augenblicks
aufgedrungen: in Rußland sind sie die Consequenz kalter Politik, die
That eines Cabinets, das geistig auf einer höheren Stufe steht, als
das russische Volk. Das Mittelalter handelte darin ganz im Geiste
seiner Zeit: Nußland thut, was es thut, im Angesicht einer besseren
Zeit und einer höheren Civilisation, der es angeblich nacheifert, wah¬
rend es ihr nur die äußerlichen Gesetzformen zur Sanctionirung und
die technische Fertigkeit zur systematischen Befestigung seines Regie¬
rungswesens entlehnen will.

Oder sind die zahlreichen Berichte über den guten Willen der
Juden-Ukase übertrieben, erdichtet, lügnerisch? Nein. Wir glauben
vielmehr, daß jene Wohldienerischen Correspondenten unberufener Weise
ein Uebriges thun. Rußland bildet sich gewiß nicht ein, an zwei
Tafeln schwelgen zu können; einerseits als furchtbares Bollwerk des
Absolutismus, als "das zweite Rom", als drohendes Zwingeuropa
angestaunt und andererseits als das Land der Humanität gepriesen
zu werden. Und Kaiser Nikolaus selbst, u,v;e tot.<; c!v i',;>-, wie
sein Freund Orloff sagt, sucht gewiß seinen Ruhm eher in einer kon¬
sequenten Rücksichtslosigkeit, die den Widerstand bricht, als in
den philanthropischen Anwandlungen seines unnationalen Vorgän¬
gers Alexander. Am wenigsten wird ihm daran liegen, für
judenfrcundlich zu gelten. Während sich daher die Einen in künstli¬
chen Raisonnements abhetzen, um die Juden-Ukase zu pestalozzischen
Erziehungsmaßregeln umzudeuteln, und. die Anderen sich rührende
Wunder von allerhand Verwendungen versprechen, gibt die russische
Negierung Beiden ein Dementi nach dem anderen.
"

Die "Berlinischen Nachrichten bringen einen neuen Mas:


richtigungsfeder zu bestreiten oder zu rechtfertigen. Wie kommt es,
daß gerade das russische Verfahren gegen die Juden in deutschen
Zeitungen so viel beschönigende Federn findet? Ist die Harte gegen
die Juden unwahrscheinlicher als die gegen das unglückliche Polen?
Denken die Correspondenten von der russischen Grenze in dieser An¬
gelegenheit leichter Glauben zu finden ? Speculiren sie vielleicht auf
das Vorurtheil gegen die Juden? Da würden sie sich sehr täuschen.
Ein Vorurtheil, das so weit ginge, um das Ohr für die Stimme
der Menschlichkeit zu betäuben, gibt es nicht mehr in Deutschland.
Das Wort: Judenhaß ist vielmehr ein Vorwurf geworden, dessen sich
selbst die eifrigsten Gegner der Judenemancipation schämen und den
sie lebhaft von sich abzuwehren suchen. Das civilisirte Europa sieht
mit Unwillen in dem Schauspiel russischer Judenbedrückung ein Spiegel¬
bild eigener barbarischer Vorzeit. Doch sind noch große Unähnlich-
keiten in diesem Bilde. Die schrecklichsten Judenverfolgungen früherer
Zeit gingen fast nie von Fristen und Regierungen aus, oder sie wur¬
den ihnen durch einen fanatischen Clerus, durch den 'Aberglauben des
Pöbels, durch den blinden Haß und Terrorismus des Augenblicks
aufgedrungen: in Rußland sind sie die Consequenz kalter Politik, die
That eines Cabinets, das geistig auf einer höheren Stufe steht, als
das russische Volk. Das Mittelalter handelte darin ganz im Geiste
seiner Zeit: Nußland thut, was es thut, im Angesicht einer besseren
Zeit und einer höheren Civilisation, der es angeblich nacheifert, wah¬
rend es ihr nur die äußerlichen Gesetzformen zur Sanctionirung und
die technische Fertigkeit zur systematischen Befestigung seines Regie¬
rungswesens entlehnen will.

Oder sind die zahlreichen Berichte über den guten Willen der
Juden-Ukase übertrieben, erdichtet, lügnerisch? Nein. Wir glauben
vielmehr, daß jene Wohldienerischen Correspondenten unberufener Weise
ein Uebriges thun. Rußland bildet sich gewiß nicht ein, an zwei
Tafeln schwelgen zu können; einerseits als furchtbares Bollwerk des
Absolutismus, als „das zweite Rom", als drohendes Zwingeuropa
angestaunt und andererseits als das Land der Humanität gepriesen
zu werden. Und Kaiser Nikolaus selbst, u,v;e tot.<; c!v i',;>-, wie
sein Freund Orloff sagt, sucht gewiß seinen Ruhm eher in einer kon¬
sequenten Rücksichtslosigkeit, die den Widerstand bricht, als in
den philanthropischen Anwandlungen seines unnationalen Vorgän¬
gers Alexander. Am wenigsten wird ihm daran liegen, für
judenfrcundlich zu gelten. Während sich daher die Einen in künstli¬
chen Raisonnements abhetzen, um die Juden-Ukase zu pestalozzischen
Erziehungsmaßregeln umzudeuteln, und. die Anderen sich rührende
Wunder von allerhand Verwendungen versprechen, gibt die russische
Negierung Beiden ein Dementi nach dem anderen.
"

Die „Berlinischen Nachrichten bringen einen neuen Mas:


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[0482] richtigungsfeder zu bestreiten oder zu rechtfertigen. Wie kommt es, daß gerade das russische Verfahren gegen die Juden in deutschen Zeitungen so viel beschönigende Federn findet? Ist die Harte gegen die Juden unwahrscheinlicher als die gegen das unglückliche Polen? Denken die Correspondenten von der russischen Grenze in dieser An¬ gelegenheit leichter Glauben zu finden ? Speculiren sie vielleicht auf das Vorurtheil gegen die Juden? Da würden sie sich sehr täuschen. Ein Vorurtheil, das so weit ginge, um das Ohr für die Stimme der Menschlichkeit zu betäuben, gibt es nicht mehr in Deutschland. Das Wort: Judenhaß ist vielmehr ein Vorwurf geworden, dessen sich selbst die eifrigsten Gegner der Judenemancipation schämen und den sie lebhaft von sich abzuwehren suchen. Das civilisirte Europa sieht mit Unwillen in dem Schauspiel russischer Judenbedrückung ein Spiegel¬ bild eigener barbarischer Vorzeit. Doch sind noch große Unähnlich- keiten in diesem Bilde. Die schrecklichsten Judenverfolgungen früherer Zeit gingen fast nie von Fristen und Regierungen aus, oder sie wur¬ den ihnen durch einen fanatischen Clerus, durch den 'Aberglauben des Pöbels, durch den blinden Haß und Terrorismus des Augenblicks aufgedrungen: in Rußland sind sie die Consequenz kalter Politik, die That eines Cabinets, das geistig auf einer höheren Stufe steht, als das russische Volk. Das Mittelalter handelte darin ganz im Geiste seiner Zeit: Nußland thut, was es thut, im Angesicht einer besseren Zeit und einer höheren Civilisation, der es angeblich nacheifert, wah¬ rend es ihr nur die äußerlichen Gesetzformen zur Sanctionirung und die technische Fertigkeit zur systematischen Befestigung seines Regie¬ rungswesens entlehnen will. Oder sind die zahlreichen Berichte über den guten Willen der Juden-Ukase übertrieben, erdichtet, lügnerisch? Nein. Wir glauben vielmehr, daß jene Wohldienerischen Correspondenten unberufener Weise ein Uebriges thun. Rußland bildet sich gewiß nicht ein, an zwei Tafeln schwelgen zu können; einerseits als furchtbares Bollwerk des Absolutismus, als „das zweite Rom", als drohendes Zwingeuropa angestaunt und andererseits als das Land der Humanität gepriesen zu werden. Und Kaiser Nikolaus selbst, u,v;e tot.<; c!v i',;>-, wie sein Freund Orloff sagt, sucht gewiß seinen Ruhm eher in einer kon¬ sequenten Rücksichtslosigkeit, die den Widerstand bricht, als in den philanthropischen Anwandlungen seines unnationalen Vorgän¬ gers Alexander. Am wenigsten wird ihm daran liegen, für judenfrcundlich zu gelten. Während sich daher die Einen in künstli¬ chen Raisonnements abhetzen, um die Juden-Ukase zu pestalozzischen Erziehungsmaßregeln umzudeuteln, und. die Anderen sich rührende Wunder von allerhand Verwendungen versprechen, gibt die russische Negierung Beiden ein Dementi nach dem anderen. " Die „Berlinischen Nachrichten bringen einen neuen Mas:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/482>, abgerufen am 23.07.2024.