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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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lebe Alexander! Es lebe der König von Preußen! tönte es ans allen
Herzen, und die Greise der Akademie, die Nestoren unserer Literatur
schienen zu frohlocken, daß sie noch lebten, um Zeugen eines Schau¬
spiels zu sein, welches alle ihre Erinnerungen in Schatten stellte."

So Andern sich, sage anch ich mit dem lorbeergekrönten Jüng¬
ling des Jahres 1814, die Schicksale der Reiche! Dachte der Jüng¬
ling Villemain, als er sich beauftragt sah, den Häuptern des großen
europäischen Kreuzzuges gewissermaßen die Honneurs zu machen, daß
man ihm, dem Minister einer neuen Regierung, auf den Thron ge¬
rufen durch den Haß der Franzosen gegen die Erinnerungen der In¬
vasion, später diese damals mit so großer Begeisterung gehörte Rede
vorwerfen werde? -- Man muß hier die Zeiten wohl zu unterschei¬
den wissen: Frankreich wurde von zwei Invasionen betroffen, deren
Folgen sehr verschieden waren. 1814, als die Verbündeten Frank¬
reich die Grenzen von 1792 ließen und ihm selbst die Hälfte von
Savoyen gaben, machte sich das verletzte Nationalgefühl noch.nicht
in patriotischen Protestationen Lust. Damals konnte man noch mit
Beranger sagen, vie öffentliche Meinung sah Napoleon ohne Schmerz
fallen und vertraute den Versprechungen der Bourbons, in der Hoff¬
nung einer schöneren Zukunft. Aber nach den hundert Tagen, als
die abermals gestürzte Dynastie im Gefolge der deutschen Armeen
zurückkam, begann für Frankreich eine Reihe von Demüthigungen,
deren Spuren noch jetzt nicht verwischt sind. Damals hätte Ville¬
main gewiß nicht so gesprochen.

Abel Fran^vis Villemain ist in Paris am 11. Juni 1791
geboren; seine Mutter, eine sehr geistreiche Frau, flößte ihm frühzei¬
tig den Geschmack für wissenschaftliche Studien ein und ließ ihn auf
das Sorgfältigste erziehen. Später kam er in die berühmte Pension
von Planche (Verfasser eines griechischen Wörterbuches), wo er sich
durch die frühzeitige Reife des Geistes auszeichnete. In seinem zwölf¬
ten Jahre, erzählt Sainte-Beuve, nahm er in der Pension an der
Darstellung griechischer Tragödien Theil; er recitirt heute noch vor
unsern ein wenig entwöhnten Ohren die ganze Rolle des Ulysses
im Philoktet."

Zu derselben Zeit, wo er in der Pension Planche den Grund
zu einer tüchtigen Bildung legte, benutzte er die Vorlesungen des


Grcuzbvtc" 1844. I. 61

lebe Alexander! Es lebe der König von Preußen! tönte es ans allen
Herzen, und die Greise der Akademie, die Nestoren unserer Literatur
schienen zu frohlocken, daß sie noch lebten, um Zeugen eines Schau¬
spiels zu sein, welches alle ihre Erinnerungen in Schatten stellte."

So Andern sich, sage anch ich mit dem lorbeergekrönten Jüng¬
ling des Jahres 1814, die Schicksale der Reiche! Dachte der Jüng¬
ling Villemain, als er sich beauftragt sah, den Häuptern des großen
europäischen Kreuzzuges gewissermaßen die Honneurs zu machen, daß
man ihm, dem Minister einer neuen Regierung, auf den Thron ge¬
rufen durch den Haß der Franzosen gegen die Erinnerungen der In¬
vasion, später diese damals mit so großer Begeisterung gehörte Rede
vorwerfen werde? — Man muß hier die Zeiten wohl zu unterschei¬
den wissen: Frankreich wurde von zwei Invasionen betroffen, deren
Folgen sehr verschieden waren. 1814, als die Verbündeten Frank¬
reich die Grenzen von 1792 ließen und ihm selbst die Hälfte von
Savoyen gaben, machte sich das verletzte Nationalgefühl noch.nicht
in patriotischen Protestationen Lust. Damals konnte man noch mit
Beranger sagen, vie öffentliche Meinung sah Napoleon ohne Schmerz
fallen und vertraute den Versprechungen der Bourbons, in der Hoff¬
nung einer schöneren Zukunft. Aber nach den hundert Tagen, als
die abermals gestürzte Dynastie im Gefolge der deutschen Armeen
zurückkam, begann für Frankreich eine Reihe von Demüthigungen,
deren Spuren noch jetzt nicht verwischt sind. Damals hätte Ville¬
main gewiß nicht so gesprochen.

Abel Fran^vis Villemain ist in Paris am 11. Juni 1791
geboren; seine Mutter, eine sehr geistreiche Frau, flößte ihm frühzei¬
tig den Geschmack für wissenschaftliche Studien ein und ließ ihn auf
das Sorgfältigste erziehen. Später kam er in die berühmte Pension
von Planche (Verfasser eines griechischen Wörterbuches), wo er sich
durch die frühzeitige Reife des Geistes auszeichnete. In seinem zwölf¬
ten Jahre, erzählt Sainte-Beuve, nahm er in der Pension an der
Darstellung griechischer Tragödien Theil; er recitirt heute noch vor
unsern ein wenig entwöhnten Ohren die ganze Rolle des Ulysses
im Philoktet."

Zu derselben Zeit, wo er in der Pension Planche den Grund
zu einer tüchtigen Bildung legte, benutzte er die Vorlesungen des


Grcuzbvtc» 1844. I. 61
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[0473] lebe Alexander! Es lebe der König von Preußen! tönte es ans allen Herzen, und die Greise der Akademie, die Nestoren unserer Literatur schienen zu frohlocken, daß sie noch lebten, um Zeugen eines Schau¬ spiels zu sein, welches alle ihre Erinnerungen in Schatten stellte." So Andern sich, sage anch ich mit dem lorbeergekrönten Jüng¬ ling des Jahres 1814, die Schicksale der Reiche! Dachte der Jüng¬ ling Villemain, als er sich beauftragt sah, den Häuptern des großen europäischen Kreuzzuges gewissermaßen die Honneurs zu machen, daß man ihm, dem Minister einer neuen Regierung, auf den Thron ge¬ rufen durch den Haß der Franzosen gegen die Erinnerungen der In¬ vasion, später diese damals mit so großer Begeisterung gehörte Rede vorwerfen werde? — Man muß hier die Zeiten wohl zu unterschei¬ den wissen: Frankreich wurde von zwei Invasionen betroffen, deren Folgen sehr verschieden waren. 1814, als die Verbündeten Frank¬ reich die Grenzen von 1792 ließen und ihm selbst die Hälfte von Savoyen gaben, machte sich das verletzte Nationalgefühl noch.nicht in patriotischen Protestationen Lust. Damals konnte man noch mit Beranger sagen, vie öffentliche Meinung sah Napoleon ohne Schmerz fallen und vertraute den Versprechungen der Bourbons, in der Hoff¬ nung einer schöneren Zukunft. Aber nach den hundert Tagen, als die abermals gestürzte Dynastie im Gefolge der deutschen Armeen zurückkam, begann für Frankreich eine Reihe von Demüthigungen, deren Spuren noch jetzt nicht verwischt sind. Damals hätte Ville¬ main gewiß nicht so gesprochen. Abel Fran^vis Villemain ist in Paris am 11. Juni 1791 geboren; seine Mutter, eine sehr geistreiche Frau, flößte ihm frühzei¬ tig den Geschmack für wissenschaftliche Studien ein und ließ ihn auf das Sorgfältigste erziehen. Später kam er in die berühmte Pension von Planche (Verfasser eines griechischen Wörterbuches), wo er sich durch die frühzeitige Reife des Geistes auszeichnete. In seinem zwölf¬ ten Jahre, erzählt Sainte-Beuve, nahm er in der Pension an der Darstellung griechischer Tragödien Theil; er recitirt heute noch vor unsern ein wenig entwöhnten Ohren die ganze Rolle des Ulysses im Philoktet." Zu derselben Zeit, wo er in der Pension Planche den Grund zu einer tüchtigen Bildung legte, benutzte er die Vorlesungen des Grcuzbvtc» 1844. I. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/473>, abgerufen am 22.12.2024.