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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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half sich hier und dort durch einen finsteren Durchgang und ließ
lieber die Straßen immer mehr und mehr verengen, als daß man
eingerissen hätte, was im Wege stand. Nun zeigen sich die Fol¬
gen. Wo die Circulation am stärksten ist, wo der Volksfleiß, das
Lebensbedürfniß, der natürliche Weg, seine Ausgänge sucht, da ist die
Stadt verstopft. Am Lugeck, am Haarmarkt, an der Ecke des Kohl-
markteö und der Herrengasse fahren die Wagen aus den entgegen¬
gesetztesten Richtungen einander in die Nippen. Der vierspännige
Wagen der Aristokratie und der flinke bürgerliche Fiaker drohen ein¬
ander über den Haufen zu rennen, der Fußgänger sucht schreiend dort und
da durchzuschlüpfen, und nicht jeder kommt Mit heiler Haut davon.
Vergebens sinnt man auf Mittel, um abzuhelfen; le s-ut s'est -^c-
cnmpli! Es ist nun einmal so! Man muß durch Geschicklichkeit,
durch Warten, durch Ausweichen und behende Wendungen durchzu¬
kommen suchen. Man hat Polizeisoldaten auf allen Ecken aufge¬
stellt, um den Zudrang in Schranken zu halten, um den Naschen
in die Zügel zu fallen. Wohl dem, der im Wagen sitzt; ihm ist
wenigstens die Hälfte erspart, er kann in seinen weichen Polstern ge¬
mächlich warten und zusehen. Aber der Fußgänger, der Proletarier,
ist der Gefahr, dem Koth, der Grobheit des Polizisten und der Bru¬
talität der kutschirenden Livrve ausgesetzt, die in ihrer Bedicntennatur
sich gegen die Untenstehenden roher und grausamer zeigt, als wohl
Der Herr, der drin sitzt, ihr aufgetragen hat.

Wie viel Zeit brauche ich für Berlin -- fragt der Reisende,
der blos die äußeren Physiognomien der Städte kennen lernen will.
-- "Sechs bis acht Tage" ist die Antwort. -- Und für Wien? --
"Drei Wochen zum wenigsten."

Woher dieser Unterschied? Allerdings hat Wien eine doppelte
Einwohnerzahl; allein die Zahl der Einwohner gibt hier nicht den
Allsschlag. Es ist ganz gleich, ob man fünfzig Pariser oder deren
hundert gesehen hat. Kunstschätze hat Berlin allerdings nicht in so
großartigen, zahlreichen Sammlungen wie Wien. Allein um Galerien
zu studiren, reichen drei Wochen eben so wenig aus als acht Tage.

Eine Hauptursache, weshalb Wien nicht mit einem so flüchtigen
Blick abgethan werden kann, wie Berlin, liegt in der größeren Man¬
nigfaltigkeit des Wiener Volkslebens und der Wiener Gesellschaft.
Die militärische Erziehung, die Einheit der Gesetzgebung, der Sitte,


half sich hier und dort durch einen finsteren Durchgang und ließ
lieber die Straßen immer mehr und mehr verengen, als daß man
eingerissen hätte, was im Wege stand. Nun zeigen sich die Fol¬
gen. Wo die Circulation am stärksten ist, wo der Volksfleiß, das
Lebensbedürfniß, der natürliche Weg, seine Ausgänge sucht, da ist die
Stadt verstopft. Am Lugeck, am Haarmarkt, an der Ecke des Kohl-
markteö und der Herrengasse fahren die Wagen aus den entgegen¬
gesetztesten Richtungen einander in die Nippen. Der vierspännige
Wagen der Aristokratie und der flinke bürgerliche Fiaker drohen ein¬
ander über den Haufen zu rennen, der Fußgänger sucht schreiend dort und
da durchzuschlüpfen, und nicht jeder kommt Mit heiler Haut davon.
Vergebens sinnt man auf Mittel, um abzuhelfen; le s-ut s'est -^c-
cnmpli! Es ist nun einmal so! Man muß durch Geschicklichkeit,
durch Warten, durch Ausweichen und behende Wendungen durchzu¬
kommen suchen. Man hat Polizeisoldaten auf allen Ecken aufge¬
stellt, um den Zudrang in Schranken zu halten, um den Naschen
in die Zügel zu fallen. Wohl dem, der im Wagen sitzt; ihm ist
wenigstens die Hälfte erspart, er kann in seinen weichen Polstern ge¬
mächlich warten und zusehen. Aber der Fußgänger, der Proletarier,
ist der Gefahr, dem Koth, der Grobheit des Polizisten und der Bru¬
talität der kutschirenden Livrve ausgesetzt, die in ihrer Bedicntennatur
sich gegen die Untenstehenden roher und grausamer zeigt, als wohl
Der Herr, der drin sitzt, ihr aufgetragen hat.

Wie viel Zeit brauche ich für Berlin — fragt der Reisende,
der blos die äußeren Physiognomien der Städte kennen lernen will.
— „Sechs bis acht Tage" ist die Antwort. — Und für Wien? —
„Drei Wochen zum wenigsten."

Woher dieser Unterschied? Allerdings hat Wien eine doppelte
Einwohnerzahl; allein die Zahl der Einwohner gibt hier nicht den
Allsschlag. Es ist ganz gleich, ob man fünfzig Pariser oder deren
hundert gesehen hat. Kunstschätze hat Berlin allerdings nicht in so
großartigen, zahlreichen Sammlungen wie Wien. Allein um Galerien
zu studiren, reichen drei Wochen eben so wenig aus als acht Tage.

Eine Hauptursache, weshalb Wien nicht mit einem so flüchtigen
Blick abgethan werden kann, wie Berlin, liegt in der größeren Man¬
nigfaltigkeit des Wiener Volkslebens und der Wiener Gesellschaft.
Die militärische Erziehung, die Einheit der Gesetzgebung, der Sitte,


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[0464] half sich hier und dort durch einen finsteren Durchgang und ließ lieber die Straßen immer mehr und mehr verengen, als daß man eingerissen hätte, was im Wege stand. Nun zeigen sich die Fol¬ gen. Wo die Circulation am stärksten ist, wo der Volksfleiß, das Lebensbedürfniß, der natürliche Weg, seine Ausgänge sucht, da ist die Stadt verstopft. Am Lugeck, am Haarmarkt, an der Ecke des Kohl- markteö und der Herrengasse fahren die Wagen aus den entgegen¬ gesetztesten Richtungen einander in die Nippen. Der vierspännige Wagen der Aristokratie und der flinke bürgerliche Fiaker drohen ein¬ ander über den Haufen zu rennen, der Fußgänger sucht schreiend dort und da durchzuschlüpfen, und nicht jeder kommt Mit heiler Haut davon. Vergebens sinnt man auf Mittel, um abzuhelfen; le s-ut s'est -^c- cnmpli! Es ist nun einmal so! Man muß durch Geschicklichkeit, durch Warten, durch Ausweichen und behende Wendungen durchzu¬ kommen suchen. Man hat Polizeisoldaten auf allen Ecken aufge¬ stellt, um den Zudrang in Schranken zu halten, um den Naschen in die Zügel zu fallen. Wohl dem, der im Wagen sitzt; ihm ist wenigstens die Hälfte erspart, er kann in seinen weichen Polstern ge¬ mächlich warten und zusehen. Aber der Fußgänger, der Proletarier, ist der Gefahr, dem Koth, der Grobheit des Polizisten und der Bru¬ talität der kutschirenden Livrve ausgesetzt, die in ihrer Bedicntennatur sich gegen die Untenstehenden roher und grausamer zeigt, als wohl Der Herr, der drin sitzt, ihr aufgetragen hat. Wie viel Zeit brauche ich für Berlin — fragt der Reisende, der blos die äußeren Physiognomien der Städte kennen lernen will. — „Sechs bis acht Tage" ist die Antwort. — Und für Wien? — „Drei Wochen zum wenigsten." Woher dieser Unterschied? Allerdings hat Wien eine doppelte Einwohnerzahl; allein die Zahl der Einwohner gibt hier nicht den Allsschlag. Es ist ganz gleich, ob man fünfzig Pariser oder deren hundert gesehen hat. Kunstschätze hat Berlin allerdings nicht in so großartigen, zahlreichen Sammlungen wie Wien. Allein um Galerien zu studiren, reichen drei Wochen eben so wenig aus als acht Tage. Eine Hauptursache, weshalb Wien nicht mit einem so flüchtigen Blick abgethan werden kann, wie Berlin, liegt in der größeren Man¬ nigfaltigkeit des Wiener Volkslebens und der Wiener Gesellschaft. Die militärische Erziehung, die Einheit der Gesetzgebung, der Sitte,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/464>, abgerufen am 22.12.2024.