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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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der Hilfe zurückgehalten. Noch einmal erbietet sich Wittich zu ihrer
Rettung, wenn sie sich ihm ergeben wolle, aber sie weist ihn ver¬
achtend zurück und wird, trotz dem Protest des Junkers, dem Gerichte
zur Inquisition übergeben. Das darauf folgende Verhör vor dem
Tisch mit Crucifix und Todtenkopf ist gedehnt und selbst in sprach¬
licher Beziehung der schwächste Theil des Stückes. Auch an Ver¬
stößen gegen innere Einheit und Wahrscheinlichkeit ist der dritte Act
reich. So kommt der Müller plötzlich hinter dem Fenster hervor und
wird von den Richtern, die den Untergang Mariens beschlossen ha¬
ben, ruhig als Zeuge geduldet; der Junker und Birkhahn gehen aus
und ein, wobei sich zuweilen der Zuschauer ein Versteck und heimliche
Thüren denken muß; Wittich, der kaum noch dem Junker auseinan¬
dergesetzt, daß er "nach der Seele Mariens hasche," bethört ihn dann,
daß er sich vertrauend einsperren läßt. Auch in der Weise, wie der
Amtshauptmann den schwankenden Consul auf seine Zwecke eingehen
macht, hätte es strengerer Motive bedurft, als die so plötzlich aufge¬
griffene Hinweisung auf frühere Bestechlichkeit. Marie muß den An¬
schuldigungen erliegen. Aber diese Anschuldigungen sind so locker, so
oberflächlich, daß sie den Zuschauer theilnahmslos lassen. Von dem
Hauptinteresse der Anklage, dem Fund des Bernsteins und den nächt¬
lichen Wanderungen nach dem Berge erfährt man einzig in dem
Verhör. Mindestens hätte uns eine Zusammenkunft der Liebenden
auf dem Berge vorgeführt werden müssen; die bloße Erzählung, so
spät, so einfach, kann uns kein Interesse bei der Sache gewähren.
Marie erliegt den Anschuldigungen. Aus Furcht vor der Folter hat
sie gestanden; der Junker, ihre letzte Hoffnung, hat sie anscheinend
verrathen, der Amtshauptmann erdrückt das Neuegeständniß der Kol-
kenlicse und hintertreibt jede Anzeige in Stettin. Alles ist bereit. End¬
lich, nach manchen unwesentlichen Zwischenszenen, im fünften Act wird
der Knäuel gelöst. Aber auf welche Weife? Marie steht am Schei¬
terhaufen, der Bote, der heimlich nach Begnadigung geeilt ist, kehrt
zurück, aber die Wachen wehren dem heranstürmenden Junker den
Weg, Wittig drängt auf schnelle Vollstreckung des Urtheils und be¬
fiehlt sogar seinen Pflegesohn zu erschießen, da -- erschlägt ihn ein
Blitz. In dem Roman erhält die befriedigende Lösung durch eine
fettgewichste Brücke und den Sturz des Pferdes in den Mühlbach
einen weit trostloseren Anstrich abenteuerlicher Romantik, aber gab es


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der Hilfe zurückgehalten. Noch einmal erbietet sich Wittich zu ihrer
Rettung, wenn sie sich ihm ergeben wolle, aber sie weist ihn ver¬
achtend zurück und wird, trotz dem Protest des Junkers, dem Gerichte
zur Inquisition übergeben. Das darauf folgende Verhör vor dem
Tisch mit Crucifix und Todtenkopf ist gedehnt und selbst in sprach¬
licher Beziehung der schwächste Theil des Stückes. Auch an Ver¬
stößen gegen innere Einheit und Wahrscheinlichkeit ist der dritte Act
reich. So kommt der Müller plötzlich hinter dem Fenster hervor und
wird von den Richtern, die den Untergang Mariens beschlossen ha¬
ben, ruhig als Zeuge geduldet; der Junker und Birkhahn gehen aus
und ein, wobei sich zuweilen der Zuschauer ein Versteck und heimliche
Thüren denken muß; Wittich, der kaum noch dem Junker auseinan¬
dergesetzt, daß er „nach der Seele Mariens hasche," bethört ihn dann,
daß er sich vertrauend einsperren läßt. Auch in der Weise, wie der
Amtshauptmann den schwankenden Consul auf seine Zwecke eingehen
macht, hätte es strengerer Motive bedurft, als die so plötzlich aufge¬
griffene Hinweisung auf frühere Bestechlichkeit. Marie muß den An¬
schuldigungen erliegen. Aber diese Anschuldigungen sind so locker, so
oberflächlich, daß sie den Zuschauer theilnahmslos lassen. Von dem
Hauptinteresse der Anklage, dem Fund des Bernsteins und den nächt¬
lichen Wanderungen nach dem Berge erfährt man einzig in dem
Verhör. Mindestens hätte uns eine Zusammenkunft der Liebenden
auf dem Berge vorgeführt werden müssen; die bloße Erzählung, so
spät, so einfach, kann uns kein Interesse bei der Sache gewähren.
Marie erliegt den Anschuldigungen. Aus Furcht vor der Folter hat
sie gestanden; der Junker, ihre letzte Hoffnung, hat sie anscheinend
verrathen, der Amtshauptmann erdrückt das Neuegeständniß der Kol-
kenlicse und hintertreibt jede Anzeige in Stettin. Alles ist bereit. End¬
lich, nach manchen unwesentlichen Zwischenszenen, im fünften Act wird
der Knäuel gelöst. Aber auf welche Weife? Marie steht am Schei¬
terhaufen, der Bote, der heimlich nach Begnadigung geeilt ist, kehrt
zurück, aber die Wachen wehren dem heranstürmenden Junker den
Weg, Wittig drängt auf schnelle Vollstreckung des Urtheils und be¬
fiehlt sogar seinen Pflegesohn zu erschießen, da — erschlägt ihn ein
Blitz. In dem Roman erhält die befriedigende Lösung durch eine
fettgewichste Brücke und den Sturz des Pferdes in den Mühlbach
einen weit trostloseren Anstrich abenteuerlicher Romantik, aber gab es


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[0427] der Hilfe zurückgehalten. Noch einmal erbietet sich Wittich zu ihrer Rettung, wenn sie sich ihm ergeben wolle, aber sie weist ihn ver¬ achtend zurück und wird, trotz dem Protest des Junkers, dem Gerichte zur Inquisition übergeben. Das darauf folgende Verhör vor dem Tisch mit Crucifix und Todtenkopf ist gedehnt und selbst in sprach¬ licher Beziehung der schwächste Theil des Stückes. Auch an Ver¬ stößen gegen innere Einheit und Wahrscheinlichkeit ist der dritte Act reich. So kommt der Müller plötzlich hinter dem Fenster hervor und wird von den Richtern, die den Untergang Mariens beschlossen ha¬ ben, ruhig als Zeuge geduldet; der Junker und Birkhahn gehen aus und ein, wobei sich zuweilen der Zuschauer ein Versteck und heimliche Thüren denken muß; Wittich, der kaum noch dem Junker auseinan¬ dergesetzt, daß er „nach der Seele Mariens hasche," bethört ihn dann, daß er sich vertrauend einsperren läßt. Auch in der Weise, wie der Amtshauptmann den schwankenden Consul auf seine Zwecke eingehen macht, hätte es strengerer Motive bedurft, als die so plötzlich aufge¬ griffene Hinweisung auf frühere Bestechlichkeit. Marie muß den An¬ schuldigungen erliegen. Aber diese Anschuldigungen sind so locker, so oberflächlich, daß sie den Zuschauer theilnahmslos lassen. Von dem Hauptinteresse der Anklage, dem Fund des Bernsteins und den nächt¬ lichen Wanderungen nach dem Berge erfährt man einzig in dem Verhör. Mindestens hätte uns eine Zusammenkunft der Liebenden auf dem Berge vorgeführt werden müssen; die bloße Erzählung, so spät, so einfach, kann uns kein Interesse bei der Sache gewähren. Marie erliegt den Anschuldigungen. Aus Furcht vor der Folter hat sie gestanden; der Junker, ihre letzte Hoffnung, hat sie anscheinend verrathen, der Amtshauptmann erdrückt das Neuegeständniß der Kol- kenlicse und hintertreibt jede Anzeige in Stettin. Alles ist bereit. End¬ lich, nach manchen unwesentlichen Zwischenszenen, im fünften Act wird der Knäuel gelöst. Aber auf welche Weife? Marie steht am Schei¬ terhaufen, der Bote, der heimlich nach Begnadigung geeilt ist, kehrt zurück, aber die Wachen wehren dem heranstürmenden Junker den Weg, Wittig drängt auf schnelle Vollstreckung des Urtheils und be¬ fiehlt sogar seinen Pflegesohn zu erschießen, da — erschlägt ihn ein Blitz. In dem Roman erhält die befriedigende Lösung durch eine fettgewichste Brücke und den Sturz des Pferdes in den Mühlbach einen weit trostloseren Anstrich abenteuerlicher Romantik, aber gab es 55»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/427>, abgerufen am 26.06.2024.