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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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laufende an Sitten, Moral und Formen aufgebaut haben. So bil¬
det z. B. "des Verführers Tagebuch" den anatomisch getreuen Ab¬
druck der Seele eines Wüstlings, dem die Ehe als ein Institut er¬
scheint, das aus Dummheit und Köhlerglauben entsprungen, und der
das Heiligste mit systematischer Nichtswürdigkeit untergrabt, um einen
flüchtigen Sinnenkitzel zu gewinnen.

Der andere Theil des Werkes bemüht sich nun, den zertrümmer¬
ten Dom wieder aufzurichten, das tief verletzte Gefühl wieder aus¬
zusöhnen, und so steht jenem Tagebuch ein schön geschriebenes Capi¬
tel: "die ästhetische Berechtigung der Ehe" gegenüber. ES ist ein
breiter philosophischer Apparat benutzt worden, um massenhaft zu im-
poniren, doch während man des Verfassers tüchtige Studien und
bedeutende Lebensanschauungen schätzen lernt, wird man durch die
Selbstgefälligkeit, mit der er sein Ich fortdauernd hervorblitzen läßt,
unangenehm berührt. Aus dem ernsten Ganzen sprühen oft über¬
raschende Witzfunken, und von den vielen schönen Aphorismen setze
ich nur folgende hierher: "Es ist immer lächerlich, wenn Einer des
Glückes Thür gewaltsam stürmen will, denn dieselbe geht nicht nach
innen auf, sondern nach außen." -- Das Buch sollte jedenfalls in's
Deutsche übertragen werden.

Wenn ich meine Skizze nun beendige, so weiß ich, daß man sie
in Deutschland lang und langweilig finden, während man ihr in
Dänemark flüchtige Oberflächlichkeit zur Last legen wird. Der letz¬
tere Vorwurf wäre wenigstens gegründeter, als der erste, denn es
ließe sich noch viel über das moderne Schriftenthum unserer Nach¬
barn sagen. Allein ich denke, man darf dem Publicum nicht gleich
so schwerfällig entgegenrücken, wenn man bei ihm Interesse für einen
Gegenstand erwecken will. Im unsicheren Clairobscür muß man die
neue Landschaft zeigen, damit sich die Romantik der Neugier regt.
Wir sind es den Dänen schuldig, uns ihre Literatur zugängig zu
machen, denn kein Volk hat reiner und feuriger, als sie, Deutschlands
Poesie in sich aufgenommen. Nun läßt sich freilich nicht fordern,
daß wir schnell die dänische Sprache lernen und somit zum Genuß
der Originalwerke gelangen sollen. Dazu fehlt es uns an Zeit.
Pflicht scheint es mir nur, uns die ganze Reihe wichtiger dänischer
Literaturerscheinungen in guten Uebersetzungen zu vergegenwärtigen,
und diese Pflicht wurde bisher allzusehr verabsäumt. Nicht als ob


laufende an Sitten, Moral und Formen aufgebaut haben. So bil¬
det z. B. „des Verführers Tagebuch" den anatomisch getreuen Ab¬
druck der Seele eines Wüstlings, dem die Ehe als ein Institut er¬
scheint, das aus Dummheit und Köhlerglauben entsprungen, und der
das Heiligste mit systematischer Nichtswürdigkeit untergrabt, um einen
flüchtigen Sinnenkitzel zu gewinnen.

Der andere Theil des Werkes bemüht sich nun, den zertrümmer¬
ten Dom wieder aufzurichten, das tief verletzte Gefühl wieder aus¬
zusöhnen, und so steht jenem Tagebuch ein schön geschriebenes Capi¬
tel: „die ästhetische Berechtigung der Ehe" gegenüber. ES ist ein
breiter philosophischer Apparat benutzt worden, um massenhaft zu im-
poniren, doch während man des Verfassers tüchtige Studien und
bedeutende Lebensanschauungen schätzen lernt, wird man durch die
Selbstgefälligkeit, mit der er sein Ich fortdauernd hervorblitzen läßt,
unangenehm berührt. Aus dem ernsten Ganzen sprühen oft über¬
raschende Witzfunken, und von den vielen schönen Aphorismen setze
ich nur folgende hierher: „Es ist immer lächerlich, wenn Einer des
Glückes Thür gewaltsam stürmen will, denn dieselbe geht nicht nach
innen auf, sondern nach außen." — Das Buch sollte jedenfalls in's
Deutsche übertragen werden.

Wenn ich meine Skizze nun beendige, so weiß ich, daß man sie
in Deutschland lang und langweilig finden, während man ihr in
Dänemark flüchtige Oberflächlichkeit zur Last legen wird. Der letz¬
tere Vorwurf wäre wenigstens gegründeter, als der erste, denn es
ließe sich noch viel über das moderne Schriftenthum unserer Nach¬
barn sagen. Allein ich denke, man darf dem Publicum nicht gleich
so schwerfällig entgegenrücken, wenn man bei ihm Interesse für einen
Gegenstand erwecken will. Im unsicheren Clairobscür muß man die
neue Landschaft zeigen, damit sich die Romantik der Neugier regt.
Wir sind es den Dänen schuldig, uns ihre Literatur zugängig zu
machen, denn kein Volk hat reiner und feuriger, als sie, Deutschlands
Poesie in sich aufgenommen. Nun läßt sich freilich nicht fordern,
daß wir schnell die dänische Sprache lernen und somit zum Genuß
der Originalwerke gelangen sollen. Dazu fehlt es uns an Zeit.
Pflicht scheint es mir nur, uns die ganze Reihe wichtiger dänischer
Literaturerscheinungen in guten Uebersetzungen zu vergegenwärtigen,
und diese Pflicht wurde bisher allzusehr verabsäumt. Nicht als ob


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[0384] laufende an Sitten, Moral und Formen aufgebaut haben. So bil¬ det z. B. „des Verführers Tagebuch" den anatomisch getreuen Ab¬ druck der Seele eines Wüstlings, dem die Ehe als ein Institut er¬ scheint, das aus Dummheit und Köhlerglauben entsprungen, und der das Heiligste mit systematischer Nichtswürdigkeit untergrabt, um einen flüchtigen Sinnenkitzel zu gewinnen. Der andere Theil des Werkes bemüht sich nun, den zertrümmer¬ ten Dom wieder aufzurichten, das tief verletzte Gefühl wieder aus¬ zusöhnen, und so steht jenem Tagebuch ein schön geschriebenes Capi¬ tel: „die ästhetische Berechtigung der Ehe" gegenüber. ES ist ein breiter philosophischer Apparat benutzt worden, um massenhaft zu im- poniren, doch während man des Verfassers tüchtige Studien und bedeutende Lebensanschauungen schätzen lernt, wird man durch die Selbstgefälligkeit, mit der er sein Ich fortdauernd hervorblitzen läßt, unangenehm berührt. Aus dem ernsten Ganzen sprühen oft über¬ raschende Witzfunken, und von den vielen schönen Aphorismen setze ich nur folgende hierher: „Es ist immer lächerlich, wenn Einer des Glückes Thür gewaltsam stürmen will, denn dieselbe geht nicht nach innen auf, sondern nach außen." — Das Buch sollte jedenfalls in's Deutsche übertragen werden. Wenn ich meine Skizze nun beendige, so weiß ich, daß man sie in Deutschland lang und langweilig finden, während man ihr in Dänemark flüchtige Oberflächlichkeit zur Last legen wird. Der letz¬ tere Vorwurf wäre wenigstens gegründeter, als der erste, denn es ließe sich noch viel über das moderne Schriftenthum unserer Nach¬ barn sagen. Allein ich denke, man darf dem Publicum nicht gleich so schwerfällig entgegenrücken, wenn man bei ihm Interesse für einen Gegenstand erwecken will. Im unsicheren Clairobscür muß man die neue Landschaft zeigen, damit sich die Romantik der Neugier regt. Wir sind es den Dänen schuldig, uns ihre Literatur zugängig zu machen, denn kein Volk hat reiner und feuriger, als sie, Deutschlands Poesie in sich aufgenommen. Nun läßt sich freilich nicht fordern, daß wir schnell die dänische Sprache lernen und somit zum Genuß der Originalwerke gelangen sollen. Dazu fehlt es uns an Zeit. Pflicht scheint es mir nur, uns die ganze Reihe wichtiger dänischer Literaturerscheinungen in guten Uebersetzungen zu vergegenwärtigen, und diese Pflicht wurde bisher allzusehr verabsäumt. Nicht als ob

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/384>, abgerufen am 26.06.2024.