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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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väterliche oder mütterliche Liebe egoistischer, weniger edel und glühend,
weil Lucrecia Borgia und der ">>öl-<- Koi-lok" ihre Kinder weniger
rein und erhaben lieben, als Me-rope und Don Diego? Ob es kei-
nen wahren und doch einfachen Schmerz mehr gibt, weil sich rings
die falschen Verzweiflungen ergießen? Mit einem Worte, ob die Li¬
teratur von heute auch der Ausdruck der Gesellschaft ist?

Wollte man die Literatur zum Maßstabe nehmen, so wären die
Leidenschaften nie mehr in Ehren gewesen, als gegenwärtig, unsere
Theaterhelden gefallen uns nur dadurch, daß sie auf die größte Ener¬
gie der Empfindungen loslegen, wir beten die glühenden, pasfionirten
Charaktere an und vergöttern selbst daS Laster, wenn es eine stolze
und kühne Miene anzunehmen weiß. Im Romane sind die Lieben¬
den immer enthusiastisch und eraltirt, die jungen Mädchen träumerisch
und melancholisch. Und trotzdem schließen sich in der Welt die Ehen
immer mehr aus Convenienz und Interesse, die Gesellschaft handelt
auf die eine und schreibt auf die andere Art, und das sicherste Mit¬
tel, sie nicht kennen zu lernen, ist, sie nach ihren Neven zu beurthei¬
len und sie beim Worte zu halten.

Dieser Zwiespalt zwischen der Gesellschaft, die schreibt, und jener,
die handelt, ist eine reiche Quelle von Irrthümern und Widerwär.
tigkeiten; denn die Gesellschaft lacht ganz im Stillen über den Nar¬
ren, der dem gewöhnlichen Leben die glühende leidenschaftliche Moral
anpassen möchte, die sich im Lesecabinet so gut macht. Ja sie erkennt
ihm, wenn er in seinen Handlungen der wahren Moral zu sehr wi¬
derspricht, ohne Zögerung die Buße aus dem Strafcoder zu uno
züchtigt im Leben am meisten das, was sie in der Literatur am eif¬
rigsten ermuthigt. Und somit weit davon entfernt, daß die moderne
Literatur ein Bild der Gesellschaft sei, wäre man beinahe versucht,
zu glauben, die Gesellschaft wolle sich umgekehrt darstellen, so sehr
verläugnet sie die Literatur durch ihre Sitten und Handlungen.




väterliche oder mütterliche Liebe egoistischer, weniger edel und glühend,
weil Lucrecia Borgia und der „>>öl-<- Koi-lok" ihre Kinder weniger
rein und erhaben lieben, als Me-rope und Don Diego? Ob es kei-
nen wahren und doch einfachen Schmerz mehr gibt, weil sich rings
die falschen Verzweiflungen ergießen? Mit einem Worte, ob die Li¬
teratur von heute auch der Ausdruck der Gesellschaft ist?

Wollte man die Literatur zum Maßstabe nehmen, so wären die
Leidenschaften nie mehr in Ehren gewesen, als gegenwärtig, unsere
Theaterhelden gefallen uns nur dadurch, daß sie auf die größte Ener¬
gie der Empfindungen loslegen, wir beten die glühenden, pasfionirten
Charaktere an und vergöttern selbst daS Laster, wenn es eine stolze
und kühne Miene anzunehmen weiß. Im Romane sind die Lieben¬
den immer enthusiastisch und eraltirt, die jungen Mädchen träumerisch
und melancholisch. Und trotzdem schließen sich in der Welt die Ehen
immer mehr aus Convenienz und Interesse, die Gesellschaft handelt
auf die eine und schreibt auf die andere Art, und das sicherste Mit¬
tel, sie nicht kennen zu lernen, ist, sie nach ihren Neven zu beurthei¬
len und sie beim Worte zu halten.

Dieser Zwiespalt zwischen der Gesellschaft, die schreibt, und jener,
die handelt, ist eine reiche Quelle von Irrthümern und Widerwär.
tigkeiten; denn die Gesellschaft lacht ganz im Stillen über den Nar¬
ren, der dem gewöhnlichen Leben die glühende leidenschaftliche Moral
anpassen möchte, die sich im Lesecabinet so gut macht. Ja sie erkennt
ihm, wenn er in seinen Handlungen der wahren Moral zu sehr wi¬
derspricht, ohne Zögerung die Buße aus dem Strafcoder zu uno
züchtigt im Leben am meisten das, was sie in der Literatur am eif¬
rigsten ermuthigt. Und somit weit davon entfernt, daß die moderne
Literatur ein Bild der Gesellschaft sei, wäre man beinahe versucht,
zu glauben, die Gesellschaft wolle sich umgekehrt darstellen, so sehr
verläugnet sie die Literatur durch ihre Sitten und Handlungen.




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[0310] väterliche oder mütterliche Liebe egoistischer, weniger edel und glühend, weil Lucrecia Borgia und der „>>öl-<- Koi-lok" ihre Kinder weniger rein und erhaben lieben, als Me-rope und Don Diego? Ob es kei- nen wahren und doch einfachen Schmerz mehr gibt, weil sich rings die falschen Verzweiflungen ergießen? Mit einem Worte, ob die Li¬ teratur von heute auch der Ausdruck der Gesellschaft ist? Wollte man die Literatur zum Maßstabe nehmen, so wären die Leidenschaften nie mehr in Ehren gewesen, als gegenwärtig, unsere Theaterhelden gefallen uns nur dadurch, daß sie auf die größte Ener¬ gie der Empfindungen loslegen, wir beten die glühenden, pasfionirten Charaktere an und vergöttern selbst daS Laster, wenn es eine stolze und kühne Miene anzunehmen weiß. Im Romane sind die Lieben¬ den immer enthusiastisch und eraltirt, die jungen Mädchen träumerisch und melancholisch. Und trotzdem schließen sich in der Welt die Ehen immer mehr aus Convenienz und Interesse, die Gesellschaft handelt auf die eine und schreibt auf die andere Art, und das sicherste Mit¬ tel, sie nicht kennen zu lernen, ist, sie nach ihren Neven zu beurthei¬ len und sie beim Worte zu halten. Dieser Zwiespalt zwischen der Gesellschaft, die schreibt, und jener, die handelt, ist eine reiche Quelle von Irrthümern und Widerwär. tigkeiten; denn die Gesellschaft lacht ganz im Stillen über den Nar¬ ren, der dem gewöhnlichen Leben die glühende leidenschaftliche Moral anpassen möchte, die sich im Lesecabinet so gut macht. Ja sie erkennt ihm, wenn er in seinen Handlungen der wahren Moral zu sehr wi¬ derspricht, ohne Zögerung die Buße aus dem Strafcoder zu uno züchtigt im Leben am meisten das, was sie in der Literatur am eif¬ rigsten ermuthigt. Und somit weit davon entfernt, daß die moderne Literatur ein Bild der Gesellschaft sei, wäre man beinahe versucht, zu glauben, die Gesellschaft wolle sich umgekehrt darstellen, so sehr verläugnet sie die Literatur durch ihre Sitten und Handlungen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/310>, abgerufen am 23.12.2024.