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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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Stimme sagte ihm, daß daS Schöne wo anders zu suchen sei, als
in der Nachahmung der kalten griechischen Formen, lind in den ta¬
dellosen Conturen von David's Schule suchte er vergebens nach
Gefühl, Bewegung und Leben. Mit dem ganzen Ungestüm eines
Gaöcogners machte der junge Ingres kein Hehl aus der ketzerischen
Richtung seines Geschmackes.

Im Jahre 1800 gewann er den zweiten großen Preis der Ma¬
lerei und im nächsten Jahre den ersten, und wurde nun nach Rom
geschickt.

So wie der junge Künstler den Boden Italiens berührt hatte,
entwickelte und befestigte sich in seinem Geiste das Ideal der großen
Meister des 16. Jahrhunderts, das er schon von Kindheit an ver¬
ehrt hatte. Von diesem Augenblicke an hat sich dieser Künstler, au-
ßer im Unwesentlichen, weder in seiner Technik, noch in seinem künst¬
lerischen Glauben geändert. Diese Unbeweglichkeit Ingres' ist viel¬
leicht die charakteristischste Seite seines Talentes. Zwanzig Jahre
lang ist er einsam, unverstanden, verkannt, ausgesetzt allen Versuch¬
ungen der Noth und des Tadels, aber immer sest und ungestört
seinen Weg gegangen. Endlich hat ihn seine Zeit anerkennen müs¬
sen, ohne daß er ihr eine einzige Concession gemacht hätte, und das
Haupt der heutigen französischen Schule kann auf seinen Weg zu¬
rückblicken, ohne einen Tag seiner Vergangenheit verläugnen zu müssen.

1804 hatte Ingres ein Porträt Napoleons für den Saal des
gesetzgebenden Körpers zu malen. Dies Bild fand wenig Anerken¬
nung. Die David'sche Schule genoß noch einer ausschließenden
Herrschaft, und Ingres' Versuch, eine neue Manier einzuführen, wurde
nicht günstig aufgenommen. Man verkannte sein überwiegendes Ta¬
lent als Physiognomiker, welches von den glänzenden und augenfäl¬
ligen Äußerlichkeiten der militärischen Schule in Schatten gestellt
wurde, und sah in ihm noch Schlimmeres als einen Neuerer: einen
Abtrünnigen.

In den Jahren von 1805--13 gingen nacheinander aus seinem
Atelier hervor: Oedipus und die Sphinr, eine Schlafende, eine Frau
im Bade, Jupiter und Thetis, die Odaliske, für den König von
Neapel, Virgil, die Aeneide dem Augustus und Octavian vorlesend,
Ossians Schlummer, die sirtinische Kapelle; und mehrere Porträts,
darunter das des Herrn Norvins, damals Chef der Polizei des Ki"


Stimme sagte ihm, daß daS Schöne wo anders zu suchen sei, als
in der Nachahmung der kalten griechischen Formen, lind in den ta¬
dellosen Conturen von David's Schule suchte er vergebens nach
Gefühl, Bewegung und Leben. Mit dem ganzen Ungestüm eines
Gaöcogners machte der junge Ingres kein Hehl aus der ketzerischen
Richtung seines Geschmackes.

Im Jahre 1800 gewann er den zweiten großen Preis der Ma¬
lerei und im nächsten Jahre den ersten, und wurde nun nach Rom
geschickt.

So wie der junge Künstler den Boden Italiens berührt hatte,
entwickelte und befestigte sich in seinem Geiste das Ideal der großen
Meister des 16. Jahrhunderts, das er schon von Kindheit an ver¬
ehrt hatte. Von diesem Augenblicke an hat sich dieser Künstler, au-
ßer im Unwesentlichen, weder in seiner Technik, noch in seinem künst¬
lerischen Glauben geändert. Diese Unbeweglichkeit Ingres' ist viel¬
leicht die charakteristischste Seite seines Talentes. Zwanzig Jahre
lang ist er einsam, unverstanden, verkannt, ausgesetzt allen Versuch¬
ungen der Noth und des Tadels, aber immer sest und ungestört
seinen Weg gegangen. Endlich hat ihn seine Zeit anerkennen müs¬
sen, ohne daß er ihr eine einzige Concession gemacht hätte, und das
Haupt der heutigen französischen Schule kann auf seinen Weg zu¬
rückblicken, ohne einen Tag seiner Vergangenheit verläugnen zu müssen.

1804 hatte Ingres ein Porträt Napoleons für den Saal des
gesetzgebenden Körpers zu malen. Dies Bild fand wenig Anerken¬
nung. Die David'sche Schule genoß noch einer ausschließenden
Herrschaft, und Ingres' Versuch, eine neue Manier einzuführen, wurde
nicht günstig aufgenommen. Man verkannte sein überwiegendes Ta¬
lent als Physiognomiker, welches von den glänzenden und augenfäl¬
ligen Äußerlichkeiten der militärischen Schule in Schatten gestellt
wurde, und sah in ihm noch Schlimmeres als einen Neuerer: einen
Abtrünnigen.

In den Jahren von 1805—13 gingen nacheinander aus seinem
Atelier hervor: Oedipus und die Sphinr, eine Schlafende, eine Frau
im Bade, Jupiter und Thetis, die Odaliske, für den König von
Neapel, Virgil, die Aeneide dem Augustus und Octavian vorlesend,
Ossians Schlummer, die sirtinische Kapelle; und mehrere Porträts,
darunter das des Herrn Norvins, damals Chef der Polizei des Ki»


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[0258] Stimme sagte ihm, daß daS Schöne wo anders zu suchen sei, als in der Nachahmung der kalten griechischen Formen, lind in den ta¬ dellosen Conturen von David's Schule suchte er vergebens nach Gefühl, Bewegung und Leben. Mit dem ganzen Ungestüm eines Gaöcogners machte der junge Ingres kein Hehl aus der ketzerischen Richtung seines Geschmackes. Im Jahre 1800 gewann er den zweiten großen Preis der Ma¬ lerei und im nächsten Jahre den ersten, und wurde nun nach Rom geschickt. So wie der junge Künstler den Boden Italiens berührt hatte, entwickelte und befestigte sich in seinem Geiste das Ideal der großen Meister des 16. Jahrhunderts, das er schon von Kindheit an ver¬ ehrt hatte. Von diesem Augenblicke an hat sich dieser Künstler, au- ßer im Unwesentlichen, weder in seiner Technik, noch in seinem künst¬ lerischen Glauben geändert. Diese Unbeweglichkeit Ingres' ist viel¬ leicht die charakteristischste Seite seines Talentes. Zwanzig Jahre lang ist er einsam, unverstanden, verkannt, ausgesetzt allen Versuch¬ ungen der Noth und des Tadels, aber immer sest und ungestört seinen Weg gegangen. Endlich hat ihn seine Zeit anerkennen müs¬ sen, ohne daß er ihr eine einzige Concession gemacht hätte, und das Haupt der heutigen französischen Schule kann auf seinen Weg zu¬ rückblicken, ohne einen Tag seiner Vergangenheit verläugnen zu müssen. 1804 hatte Ingres ein Porträt Napoleons für den Saal des gesetzgebenden Körpers zu malen. Dies Bild fand wenig Anerken¬ nung. Die David'sche Schule genoß noch einer ausschließenden Herrschaft, und Ingres' Versuch, eine neue Manier einzuführen, wurde nicht günstig aufgenommen. Man verkannte sein überwiegendes Ta¬ lent als Physiognomiker, welches von den glänzenden und augenfäl¬ ligen Äußerlichkeiten der militärischen Schule in Schatten gestellt wurde, und sah in ihm noch Schlimmeres als einen Neuerer: einen Abtrünnigen. In den Jahren von 1805—13 gingen nacheinander aus seinem Atelier hervor: Oedipus und die Sphinr, eine Schlafende, eine Frau im Bade, Jupiter und Thetis, die Odaliske, für den König von Neapel, Virgil, die Aeneide dem Augustus und Octavian vorlesend, Ossians Schlummer, die sirtinische Kapelle; und mehrere Porträts, darunter das des Herrn Norvins, damals Chef der Polizei des Ki»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/258>, abgerufen am 26.06.2024.