zählen; gewiß in irgend einer Beziehung eine sociale Tragödie. -- Und kennst Du sie gar nicht, jene verrufenen Straßen und Winkel, wo die Entmenschlichung und das Laster frei und offen sich geber- den, wo Du Nichts siehst und hörst, als die wilde Lust, das wüste Geschrei losgelassener, entfesselter Bestialität? Gewiß auch Du bist schon dort gewesen; von einem fröhlichen Gelage kommend, hat auch Dich der Weintaumel ein Mal dahin geführt, damit Du den lustigen Abend mit einem guten Witz beschließest. Erinnerst Du Dich nicht jener trunkenen, tobend, singend und schreiend dahinziehenden Horden, jenes viehischen Jauchzens, aller jener langen Reihen von erleuchteten Häusern lind Spelunken, aus denen wüster Lärm, Musik und Tanz Dir entgegcntönten? Hier Hausen sie, die bedauernSwerthcsten, unglück- lichsten, elendesten Opfer unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, jene armen, verachteten, von der Gesellschaft ausgestoßenen, moralisch und physisch gemordeten Geschöpfe; in diese schmutzigen, geheimnißvollen Gassen Berlins zusammengeschichtet, bergen sie unzählige schauder¬ erregende Geheimnisse in ihren Herzen. Doch ich sehe, Du hast keine Zeit mir weiter zuzuhören; Du hast jetzt zartere Geschäfte, Du scherzest da mit der kleinen, lieblichen Kellnerin. Sie hört Dir zu, aber sie lacht, sie antwortet Dir gezwungen, der strenge Blick des Herrn, der Deine volle Börse kennt, befiehlt es ihr. Könntest Du ihr Inneres sehen, Du würdest nachlassen mit Deinem leichtsinnigen, frivolen Geschwätz; ich kenne zufällig dieses Mädchen, ziehe nur ge¬ trost Deinen Hut vor ihrer Größe, sie ist mehr als Du, mein Freund, sie ist ein großer, ein tragischer Charakter, ihre Geschichte -- ich werde sie Dir bald ein Mal erzählen --ist ein geheimnißvoller Kampf, ein echtes Berliner Geheimniß. Aber Du bist heut einmal nicht aus gelegt zum Ernste, es ist ja Fastnacht, Du stürmst fort, willst die öf¬ fentlichen Vergnügungsplätze, die Maskenfcste durchwandern. El, wie Du da in wilder Ausgelassenheit Dich unter die bunte, wiu. meinte Menge mischest, allen Deinen Humor und Witz sprühen la¬ ßest! Ha! sieh nur, wie die Musik sie Alle elektrisch fortreißt, wie sie in wüstem, rasendem Taumel die glänzenden, feenhaften Säle durch¬ toben! Sieht das nicht gerade aus, als hätten sie geheime Schmer¬ zen zu betäuben, in momentanen Rausche den ganzen Jammer einer grauenhaften Wirklichkeit zu vergessen? Diese gemachte trunkene Lust, sieht sie nicht wie eine verzweifelte Flucht aus, aus dem Elende und
zählen; gewiß in irgend einer Beziehung eine sociale Tragödie. — Und kennst Du sie gar nicht, jene verrufenen Straßen und Winkel, wo die Entmenschlichung und das Laster frei und offen sich geber- den, wo Du Nichts siehst und hörst, als die wilde Lust, das wüste Geschrei losgelassener, entfesselter Bestialität? Gewiß auch Du bist schon dort gewesen; von einem fröhlichen Gelage kommend, hat auch Dich der Weintaumel ein Mal dahin geführt, damit Du den lustigen Abend mit einem guten Witz beschließest. Erinnerst Du Dich nicht jener trunkenen, tobend, singend und schreiend dahinziehenden Horden, jenes viehischen Jauchzens, aller jener langen Reihen von erleuchteten Häusern lind Spelunken, aus denen wüster Lärm, Musik und Tanz Dir entgegcntönten? Hier Hausen sie, die bedauernSwerthcsten, unglück- lichsten, elendesten Opfer unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, jene armen, verachteten, von der Gesellschaft ausgestoßenen, moralisch und physisch gemordeten Geschöpfe; in diese schmutzigen, geheimnißvollen Gassen Berlins zusammengeschichtet, bergen sie unzählige schauder¬ erregende Geheimnisse in ihren Herzen. Doch ich sehe, Du hast keine Zeit mir weiter zuzuhören; Du hast jetzt zartere Geschäfte, Du scherzest da mit der kleinen, lieblichen Kellnerin. Sie hört Dir zu, aber sie lacht, sie antwortet Dir gezwungen, der strenge Blick des Herrn, der Deine volle Börse kennt, befiehlt es ihr. Könntest Du ihr Inneres sehen, Du würdest nachlassen mit Deinem leichtsinnigen, frivolen Geschwätz; ich kenne zufällig dieses Mädchen, ziehe nur ge¬ trost Deinen Hut vor ihrer Größe, sie ist mehr als Du, mein Freund, sie ist ein großer, ein tragischer Charakter, ihre Geschichte — ich werde sie Dir bald ein Mal erzählen —ist ein geheimnißvoller Kampf, ein echtes Berliner Geheimniß. Aber Du bist heut einmal nicht aus gelegt zum Ernste, es ist ja Fastnacht, Du stürmst fort, willst die öf¬ fentlichen Vergnügungsplätze, die Maskenfcste durchwandern. El, wie Du da in wilder Ausgelassenheit Dich unter die bunte, wiu. meinte Menge mischest, allen Deinen Humor und Witz sprühen la¬ ßest! Ha! sieh nur, wie die Musik sie Alle elektrisch fortreißt, wie sie in wüstem, rasendem Taumel die glänzenden, feenhaften Säle durch¬ toben! Sieht das nicht gerade aus, als hätten sie geheime Schmer¬ zen zu betäuben, in momentanen Rausche den ganzen Jammer einer grauenhaften Wirklichkeit zu vergessen? Diese gemachte trunkene Lust, sieht sie nicht wie eine verzweifelte Flucht aus, aus dem Elende und
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zählen; gewiß in irgend einer Beziehung eine sociale Tragödie. —
Und kennst Du sie gar nicht, jene verrufenen Straßen und Winkel,
wo die Entmenschlichung und das Laster frei und offen sich geber-
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Geschrei losgelassener, entfesselter Bestialität? Gewiß auch Du bist
schon dort gewesen; von einem fröhlichen Gelage kommend, hat auch
Dich der Weintaumel ein Mal dahin geführt, damit Du den lustigen
Abend mit einem guten Witz beschließest. Erinnerst Du Dich nicht
jener trunkenen, tobend, singend und schreiend dahinziehenden Horden,
jenes viehischen Jauchzens, aller jener langen Reihen von erleuchteten
Häusern lind Spelunken, aus denen wüster Lärm, Musik und Tanz
Dir entgegcntönten? Hier Hausen sie, die bedauernSwerthcsten, unglück-
lichsten, elendesten Opfer unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, jene
armen, verachteten, von der Gesellschaft ausgestoßenen, moralisch und
physisch gemordeten Geschöpfe; in diese schmutzigen, geheimnißvollen
Gassen Berlins zusammengeschichtet, bergen sie unzählige schauder¬
erregende Geheimnisse in ihren Herzen. Doch ich sehe, Du hast
keine Zeit mir weiter zuzuhören; Du hast jetzt zartere Geschäfte, Du
scherzest da mit der kleinen, lieblichen Kellnerin. Sie hört Dir zu,
aber sie lacht, sie antwortet Dir gezwungen, der strenge Blick des
Herrn, der Deine volle Börse kennt, befiehlt es ihr. Könntest Du
ihr Inneres sehen, Du würdest nachlassen mit Deinem leichtsinnigen,
frivolen Geschwätz; ich kenne zufällig dieses Mädchen, ziehe nur ge¬
trost Deinen Hut vor ihrer Größe, sie ist mehr als Du, mein Freund,
sie ist ein großer, ein tragischer Charakter, ihre Geschichte — ich
werde sie Dir bald ein Mal erzählen —ist ein geheimnißvoller Kampf,
ein echtes Berliner Geheimniß. Aber Du bist heut einmal nicht aus
gelegt zum Ernste, es ist ja Fastnacht, Du stürmst fort, willst die öf¬
fentlichen Vergnügungsplätze, die Maskenfcste durchwandern. El,
wie Du da in wilder Ausgelassenheit Dich unter die bunte, wiu.
meinte Menge mischest, allen Deinen Humor und Witz sprühen la¬
ßest! Ha! sieh nur, wie die Musik sie Alle elektrisch fortreißt, wie sie
in wüstem, rasendem Taumel die glänzenden, feenhaften Säle durch¬
toben! Sieht das nicht gerade aus, als hätten sie geheime Schmer¬
zen zu betäuben, in momentanen Rausche den ganzen Jammer einer
grauenhaften Wirklichkeit zu vergessen? Diese gemachte trunkene Lust,
sieht sie nicht wie eine verzweifelte Flucht aus, aus dem Elende und
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/24>, abgerufen am 22.12.2024.
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