lcumdung zeihen müßte, um Gratsch's Betheuerungen zu glauben. Was die Fürstin Trubetzkoi betrifft, so hat Gretsch erklärt, daß der Kaiser ihre Kinder erziehen lassen, d. h. in einem Soldatcnstift unterbringen wollte. In diesem Punkt war Cnstinc irrig berichtet. Aber dieser Punkt ist nicht die Hauptsache. Der kalte, vcrklcinerungssüchtigc Ton, mit dem G. von der unglücklichen großen Frau spricht, verräth nur zu sehr, daß man in Petersburg weit davon entfernt ist, ihren Herois¬ mus zu bewundern; ja, daß man vielleicht eher unwillig ist über die unkluge, taktlose Fürstin, die, statt am Hos ein glänzendes Leben zu führen, vor ganz Europa solch ein Aergerniß gibt und eine Selbstauf¬ opferung, die eigentlich nur dem Allerhöchsten, dem Kaiser, gebührt, ihrem verbrecherischen Manne widmet. Solche Dcnkungsweise kann man nicht weiter anklagen: sie ist eben russisch. Wenn der Königs" berger Judenschaft auf ihre Petition zu Gunsten von 4W,l)W un¬ glücklichen, von Haus und Hof getriebenen Glaubensgenossen geant¬ wortet wird, man halte die Sache nicht für erheblich, so ist dies nur ein neuer Beweis, daß Vieles, was bei uns die heiligsten Inter¬ essen berührt, dort für sehr unerheblich gilt; man versteht es nicht an¬ ders. Nicolaus ist ein sehr energischer Regent, und wir werden ihm weder Grausamkeit noch Gewissenlosigkeit zum Vorwurf machen, denn er ist so ganz Russe, daß wir ihn nicht nach unserem occidentalischen Maßstab beurtheilen können; eben darum sind aber auch die Epitheta: ritterlich, erhaben, heroisch, welche die gedankenlose Speichelleckerei täg¬ lich an ihn verschwendet, so lächerlich und unpassend. --
-- Die preußischen Landtagsabschiede sind nicht geeignet, den po¬ litischen Durst zu stillen, der die verschiedensten Stämme des deutschen Volkes in Preußen zu ergreifen anfängt. Die Provinzialstände wer¬ den überall, wo ihre Forderungen einen Blick ans das Allgemeine, auf das Vaterland im Großen verrathen, mit entschiedenem Mißfallen zu¬ rückgewiesen, als hätten sie ihre Schranken überschritten. Es gibt aber so manche Frage von allgemeiner Wichtigkeit, die doch zugleich in den Kreis des localen und provinziellen Lebens gehört. Sollen z. B. die Stände einer Provinz nicht um Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens pctitionircn, weil die Gewährung derselben von gro¬ ßen politischen Folgen wäre, während die Forderung doch eine noth¬ wendige, die Frucht eines auch in localen Kreisen erkannten Bedürf¬ nisses ist? -- Das Schlimmste dabei ist das allerhöchste Mißfallen. Go konnte gewiß Manches nicht unmittelbar gewährt werden; eine offene Motivirung deö "Nein" wäre immer eine Art Hoffnung gewesen; so aber hat es den Anschein, als sähe man mit ungnädigem Mißbe¬ hagen das Volk jener Reife entgegenwachsen, die man selbst als Ter- ' um seiner Emancipation feststellt.
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lcumdung zeihen müßte, um Gratsch's Betheuerungen zu glauben. Was die Fürstin Trubetzkoi betrifft, so hat Gretsch erklärt, daß der Kaiser ihre Kinder erziehen lassen, d. h. in einem Soldatcnstift unterbringen wollte. In diesem Punkt war Cnstinc irrig berichtet. Aber dieser Punkt ist nicht die Hauptsache. Der kalte, vcrklcinerungssüchtigc Ton, mit dem G. von der unglücklichen großen Frau spricht, verräth nur zu sehr, daß man in Petersburg weit davon entfernt ist, ihren Herois¬ mus zu bewundern; ja, daß man vielleicht eher unwillig ist über die unkluge, taktlose Fürstin, die, statt am Hos ein glänzendes Leben zu führen, vor ganz Europa solch ein Aergerniß gibt und eine Selbstauf¬ opferung, die eigentlich nur dem Allerhöchsten, dem Kaiser, gebührt, ihrem verbrecherischen Manne widmet. Solche Dcnkungsweise kann man nicht weiter anklagen: sie ist eben russisch. Wenn der Königs« berger Judenschaft auf ihre Petition zu Gunsten von 4W,l)W un¬ glücklichen, von Haus und Hof getriebenen Glaubensgenossen geant¬ wortet wird, man halte die Sache nicht für erheblich, so ist dies nur ein neuer Beweis, daß Vieles, was bei uns die heiligsten Inter¬ essen berührt, dort für sehr unerheblich gilt; man versteht es nicht an¬ ders. Nicolaus ist ein sehr energischer Regent, und wir werden ihm weder Grausamkeit noch Gewissenlosigkeit zum Vorwurf machen, denn er ist so ganz Russe, daß wir ihn nicht nach unserem occidentalischen Maßstab beurtheilen können; eben darum sind aber auch die Epitheta: ritterlich, erhaben, heroisch, welche die gedankenlose Speichelleckerei täg¬ lich an ihn verschwendet, so lächerlich und unpassend. —
— Die preußischen Landtagsabschiede sind nicht geeignet, den po¬ litischen Durst zu stillen, der die verschiedensten Stämme des deutschen Volkes in Preußen zu ergreifen anfängt. Die Provinzialstände wer¬ den überall, wo ihre Forderungen einen Blick ans das Allgemeine, auf das Vaterland im Großen verrathen, mit entschiedenem Mißfallen zu¬ rückgewiesen, als hätten sie ihre Schranken überschritten. Es gibt aber so manche Frage von allgemeiner Wichtigkeit, die doch zugleich in den Kreis des localen und provinziellen Lebens gehört. Sollen z. B. die Stände einer Provinz nicht um Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des Gerichtsverfahrens pctitionircn, weil die Gewährung derselben von gro¬ ßen politischen Folgen wäre, während die Forderung doch eine noth¬ wendige, die Frucht eines auch in localen Kreisen erkannten Bedürf¬ nisses ist? — Das Schlimmste dabei ist das allerhöchste Mißfallen. Go konnte gewiß Manches nicht unmittelbar gewährt werden; eine offene Motivirung deö „Nein" wäre immer eine Art Hoffnung gewesen; so aber hat es den Anschein, als sähe man mit ungnädigem Mißbe¬ hagen das Volk jener Reife entgegenwachsen, die man selbst als Ter- ' um seiner Emancipation feststellt.
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ihre Kinder erziehen lassen, d. h. in einem Soldatcnstift unterbringen
wollte. In diesem Punkt war Cnstinc irrig berichtet. Aber dieser
Punkt ist nicht die Hauptsache. Der kalte, vcrklcinerungssüchtigc Ton,
mit dem G. von der unglücklichen großen Frau spricht, verräth nur
zu sehr, daß man in Petersburg weit davon entfernt ist, ihren Herois¬
mus zu bewundern; ja, daß man vielleicht eher unwillig ist über die
unkluge, taktlose Fürstin, die, statt am Hos ein glänzendes Leben zu
führen, vor ganz Europa solch ein Aergerniß gibt und eine Selbstauf¬
opferung, die eigentlich nur dem Allerhöchsten, dem Kaiser, gebührt,
ihrem verbrecherischen Manne widmet. Solche Dcnkungsweise kann
man nicht weiter anklagen: sie ist eben russisch. Wenn der Königs«
berger Judenschaft auf ihre Petition zu Gunsten von 4W,l)W un¬
glücklichen, von Haus und Hof getriebenen Glaubensgenossen geant¬
wortet wird, man halte die Sache nicht für erheblich, so ist dies
nur ein neuer Beweis, daß Vieles, was bei uns die heiligsten Inter¬
essen berührt, dort für sehr unerheblich gilt; man versteht es nicht an¬
ders. Nicolaus ist ein sehr energischer Regent, und wir werden ihm
weder Grausamkeit noch Gewissenlosigkeit zum Vorwurf machen, denn
er ist so ganz Russe, daß wir ihn nicht nach unserem occidentalischen
Maßstab beurtheilen können; eben darum sind aber auch die Epitheta:
ritterlich, erhaben, heroisch, welche die gedankenlose Speichelleckerei täg¬
lich an ihn verschwendet, so lächerlich und unpassend. —
— Die preußischen Landtagsabschiede sind nicht geeignet, den po¬
litischen Durst zu stillen, der die verschiedensten Stämme des deutschen
Volkes in Preußen zu ergreifen anfängt. Die Provinzialstände wer¬
den überall, wo ihre Forderungen einen Blick ans das Allgemeine, auf
das Vaterland im Großen verrathen, mit entschiedenem Mißfallen zu¬
rückgewiesen, als hätten sie ihre Schranken überschritten. Es gibt aber
so manche Frage von allgemeiner Wichtigkeit, die doch zugleich in den
Kreis des localen und provinziellen Lebens gehört. Sollen z. B. die
Stände einer Provinz nicht um Oeffentlichkeit und Mündlichkeit des
Gerichtsverfahrens pctitionircn, weil die Gewährung derselben von gro¬
ßen politischen Folgen wäre, während die Forderung doch eine noth¬
wendige, die Frucht eines auch in localen Kreisen erkannten Bedürf¬
nisses ist? — Das Schlimmste dabei ist das allerhöchste Mißfallen.
Go konnte gewiß Manches nicht unmittelbar gewährt werden; eine
offene Motivirung deö „Nein" wäre immer eine Art Hoffnung gewesen;
so aber hat es den Anschein, als sähe man mit ungnädigem Mißbe¬
hagen das Volk jener Reife entgegenwachsen, die man selbst als Ter- '
um seiner Emancipation feststellt.
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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/175>, abgerufen am 22.12.2024.
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