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Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester.

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funden hat, strömt ganz Paris wieder den Werken seiner alten tra¬
gischen Meister zu. Nicht etwa flüchtig als Modesache; vielmehr ist
seit dem ersten Auftreten der Rachel, also seit fünf Jahren, die Lust
an dem alten Drama sich gleich geblieben. Wo ist aber die Lust
an unserm Corneille, an unserm Racine bei uns geblieben? Man zähle
nach, ob unsere Bühnen alle zusammen während dieser fünf Jahre
so oft die Göthesche Iphigenie und den Tasso gegeben haben, wie
das Theater l',--"""^!" den Polycuct und die Horatier? Und die
Schuld liegt keineswegs blos an unsern Theaterdirectoren. Würde
das deutsche Publicum an unserm classischen Drama den rechten
Antheil nehmen, die cassalustigen Direktionen würden gewiß nicht
sparsam damit sein; man thut den Direktionen Unrecht, wenn man
glaubt, daß gerade sie es sind, welche die "drei Tage aus dem Leben
eines Spielers" und den Lumpacivagabundus der Braut von Mes-
sina und dein Wallenstein vorziehen.

DaS deutsche Volk ist allerdings überhaupt nicht so theaterlustig
wie das französische. Wahrend es in Paris mehr als ein Dutzend
Theater gibt, wo im Parterre und in Logen der Handwerker, der
Kleinkrämer, ja der Taglöhner als Publicum sitzt, findet man in
deutschen Städten nicht nur die Zahl der Theater, (selbst Verhältniß-
mäßig genommen) beschränkter, sondern Parterre und Logen sind nur
von den gebildetem Classen besetzt und das Paradies, die ober¬
ste Galerie, reicht für die Schaulustigen der untern Stände reichlich
aus. Aber gerade dieser Umstand ist wieder gravirend für uns.
Indem man uns die Stücke jener Volksbühnen übersetzt und unse¬
rem Parterre das'bietet, was der französische Originaldichter für
sein Parterre berechnete, stellt eS sich deutlich heraus, daß das
deutsche Theaterpublicum, welches aus der Elite der deutschen Gesell¬
schaft besteht, auf einer gleichen Bildungsstufe mit jenem französischen
Theaterpublicum, sich befindet, welches den umern Ständen angehört.

Schauen wir nur recht herzhaft in den Spiegel und sehen uns
unser Bild ungeschmeichelt an. Das deutsche Volk, "das Volk der
Denker", hat sich in letzterer Zeit allzuviel Complimente gemacht, eS
muß auch ein Mal die Wahrheit hören. Nicht die Schlaffheit der
Dichter ist Schuld, daß das Drama nicht zur Blüthe kommen kann;
der Zustand unseres Publicums macht den Boden so sandig, daß
nur selten ein Korn Wurzel fassen kann. Das deutsche Publicum ist


Grcnzbott" 1844. I. 21

funden hat, strömt ganz Paris wieder den Werken seiner alten tra¬
gischen Meister zu. Nicht etwa flüchtig als Modesache; vielmehr ist
seit dem ersten Auftreten der Rachel, also seit fünf Jahren, die Lust
an dem alten Drama sich gleich geblieben. Wo ist aber die Lust
an unserm Corneille, an unserm Racine bei uns geblieben? Man zähle
nach, ob unsere Bühnen alle zusammen während dieser fünf Jahre
so oft die Göthesche Iphigenie und den Tasso gegeben haben, wie
das Theater l',--»»«^!« den Polycuct und die Horatier? Und die
Schuld liegt keineswegs blos an unsern Theaterdirectoren. Würde
das deutsche Publicum an unserm classischen Drama den rechten
Antheil nehmen, die cassalustigen Direktionen würden gewiß nicht
sparsam damit sein; man thut den Direktionen Unrecht, wenn man
glaubt, daß gerade sie es sind, welche die „drei Tage aus dem Leben
eines Spielers" und den Lumpacivagabundus der Braut von Mes-
sina und dein Wallenstein vorziehen.

DaS deutsche Volk ist allerdings überhaupt nicht so theaterlustig
wie das französische. Wahrend es in Paris mehr als ein Dutzend
Theater gibt, wo im Parterre und in Logen der Handwerker, der
Kleinkrämer, ja der Taglöhner als Publicum sitzt, findet man in
deutschen Städten nicht nur die Zahl der Theater, (selbst Verhältniß-
mäßig genommen) beschränkter, sondern Parterre und Logen sind nur
von den gebildetem Classen besetzt und das Paradies, die ober¬
ste Galerie, reicht für die Schaulustigen der untern Stände reichlich
aus. Aber gerade dieser Umstand ist wieder gravirend für uns.
Indem man uns die Stücke jener Volksbühnen übersetzt und unse¬
rem Parterre das'bietet, was der französische Originaldichter für
sein Parterre berechnete, stellt eS sich deutlich heraus, daß das
deutsche Theaterpublicum, welches aus der Elite der deutschen Gesell¬
schaft besteht, auf einer gleichen Bildungsstufe mit jenem französischen
Theaterpublicum, sich befindet, welches den umern Ständen angehört.

Schauen wir nur recht herzhaft in den Spiegel und sehen uns
unser Bild ungeschmeichelt an. Das deutsche Volk, „das Volk der
Denker", hat sich in letzterer Zeit allzuviel Complimente gemacht, eS
muß auch ein Mal die Wahrheit hören. Nicht die Schlaffheit der
Dichter ist Schuld, daß das Drama nicht zur Blüthe kommen kann;
der Zustand unseres Publicums macht den Boden so sandig, daß
nur selten ein Korn Wurzel fassen kann. Das deutsche Publicum ist


Grcnzbott» 1844. I. 21
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[0165] funden hat, strömt ganz Paris wieder den Werken seiner alten tra¬ gischen Meister zu. Nicht etwa flüchtig als Modesache; vielmehr ist seit dem ersten Auftreten der Rachel, also seit fünf Jahren, die Lust an dem alten Drama sich gleich geblieben. Wo ist aber die Lust an unserm Corneille, an unserm Racine bei uns geblieben? Man zähle nach, ob unsere Bühnen alle zusammen während dieser fünf Jahre so oft die Göthesche Iphigenie und den Tasso gegeben haben, wie das Theater l',--»»«^!« den Polycuct und die Horatier? Und die Schuld liegt keineswegs blos an unsern Theaterdirectoren. Würde das deutsche Publicum an unserm classischen Drama den rechten Antheil nehmen, die cassalustigen Direktionen würden gewiß nicht sparsam damit sein; man thut den Direktionen Unrecht, wenn man glaubt, daß gerade sie es sind, welche die „drei Tage aus dem Leben eines Spielers" und den Lumpacivagabundus der Braut von Mes- sina und dein Wallenstein vorziehen. DaS deutsche Volk ist allerdings überhaupt nicht so theaterlustig wie das französische. Wahrend es in Paris mehr als ein Dutzend Theater gibt, wo im Parterre und in Logen der Handwerker, der Kleinkrämer, ja der Taglöhner als Publicum sitzt, findet man in deutschen Städten nicht nur die Zahl der Theater, (selbst Verhältniß- mäßig genommen) beschränkter, sondern Parterre und Logen sind nur von den gebildetem Classen besetzt und das Paradies, die ober¬ ste Galerie, reicht für die Schaulustigen der untern Stände reichlich aus. Aber gerade dieser Umstand ist wieder gravirend für uns. Indem man uns die Stücke jener Volksbühnen übersetzt und unse¬ rem Parterre das'bietet, was der französische Originaldichter für sein Parterre berechnete, stellt eS sich deutlich heraus, daß das deutsche Theaterpublicum, welches aus der Elite der deutschen Gesell¬ schaft besteht, auf einer gleichen Bildungsstufe mit jenem französischen Theaterpublicum, sich befindet, welches den umern Ständen angehört. Schauen wir nur recht herzhaft in den Spiegel und sehen uns unser Bild ungeschmeichelt an. Das deutsche Volk, „das Volk der Denker", hat sich in letzterer Zeit allzuviel Complimente gemacht, eS muß auch ein Mal die Wahrheit hören. Nicht die Schlaffheit der Dichter ist Schuld, daß das Drama nicht zur Blüthe kommen kann; der Zustand unseres Publicums macht den Boden so sandig, daß nur selten ein Korn Wurzel fassen kann. Das deutsche Publicum ist Grcnzbott» 1844. I. 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 3, 1844, I. Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341546_179712/165>, abgerufen am 29.06.2024.