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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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des Herzens herüberkommen, Phrasen statt der Grundsätze/ Vorurtheile statt des
Wissens, Formen statt der Sitte lehren, und notwendigerweise ein Volk verach¬
ten müssen, das seine Kinder von solchen, als sie sind, erziehen läßt.

Merkwürdig ist> daß unsere Censur sich bei Weitem gelinder gegen französi¬
sche Bücher als gegen deutsche zeigt. Diese Maßregel ist zwar nicht inconsequent.
Der Käufer eines französischen Buches gehört zweifelsohne bereits den wohlhaben¬
den Klassen an, bei welcher revolutionäre Ideen nicht so zugänglich sind. So
kömmt es, daß Übersetzungen französischer Werke, welche bereits eine deutsche Cen¬
sur passirten und von dem allergefährlichsten gereinigt worden sind, dennoch
mit dem schweren Bann des Deleatur getroffen werden, während das Original¬
werk mit einem leichten Transeat davon kömmt. Der Hauptgrund hievon liegt
aber darin, daß fast der ganze Adel mit französischer Literatur sich verproviantirt,,
und eine allzu strenge Maßregel gegen diese zu gar vielen Reklamationen führen
würde. -

Doch kommen wir zurück auf den Frühling, auf das Sommerleben, welches
fast jeden Wiener auf mehrere Monate dem Treiben der Stadt, mit allen seinen
Auswüchsen und Lastern entrückt.

Zu keiner Stadt der Welt dürfte wohl die Sehnsucht nach dem Landleben so
groß sein, wie in Wien. Kaum daß die Bäume im Prater grün werden, so rich¬
tet schon die ganze Bevölkerung ihre sehnsüchtigen Blicke hinaus jenseits der Linien,
die die Stadt umziehen. Die Umgegend ist hier so reizend, so üppig, und die von
Staub und allerlei Dünsten geschwängerte Stadtlust so ungesund, daß ber Hang,
die Sommermonate auf dem Lande zuzubringen, sehr erklärlich ist. Andererseits
hat dieser Trieb in den umliegenden Ortschaften die Erbauung vieler herrlichen
Landhäuser "und Sommerwohnungen zur Folge gehabt, und die städtische Be¬
quemlichkeit, die man da überall findet, die immerwährend bereit stehenden Stell¬
wagen, mit welchen man' zu jeder Stunde des Tags für zehn bis zwanzig Silber-
krcuzer nach jedem der in dem Umkreise von vier bis fünf Stunden liegenden Ort¬
schaften fahren kann, haben ihrerseits wieder diese Liebhaberei gesteigert. Fast je"
der.nur halbwegs bemittelte Mann hat für sich und seine Familie ein Sommcr-
quartier in Hi'tzmg, Döbling, Heiligenstadt, Mödling, Se. Veit, Baden, Dorn¬
bach in. gemiethet. Der Beamte oder der Ncgoziant, den seine Geschäfte an die
Stadt fesseln, fährt früh mit dem Stellwagen von seinem TuScull.mcib und ist in
kürzester Zeit in seinem Bureau oder Gewölbe. Der Banquier, der um zwölf Uhr
die Börse besuchen muß, macht diese Tour einige Stunden später, und Nachmit¬
tags um fünf Uhr kann man die berühmtesten Schauspieler und Sänger der bei¬
den Hoftheater auf dem Stellwagen sprechen, denn sie eilen der Stadt zu, weil sie
um sieben Uhr im vollen Costüm auf den Brettern erscheinen müssen Bis Mit-


des Herzens herüberkommen, Phrasen statt der Grundsätze/ Vorurtheile statt des
Wissens, Formen statt der Sitte lehren, und notwendigerweise ein Volk verach¬
ten müssen, das seine Kinder von solchen, als sie sind, erziehen läßt.

Merkwürdig ist> daß unsere Censur sich bei Weitem gelinder gegen französi¬
sche Bücher als gegen deutsche zeigt. Diese Maßregel ist zwar nicht inconsequent.
Der Käufer eines französischen Buches gehört zweifelsohne bereits den wohlhaben¬
den Klassen an, bei welcher revolutionäre Ideen nicht so zugänglich sind. So
kömmt es, daß Übersetzungen französischer Werke, welche bereits eine deutsche Cen¬
sur passirten und von dem allergefährlichsten gereinigt worden sind, dennoch
mit dem schweren Bann des Deleatur getroffen werden, während das Original¬
werk mit einem leichten Transeat davon kömmt. Der Hauptgrund hievon liegt
aber darin, daß fast der ganze Adel mit französischer Literatur sich verproviantirt,,
und eine allzu strenge Maßregel gegen diese zu gar vielen Reklamationen führen
würde. -

Doch kommen wir zurück auf den Frühling, auf das Sommerleben, welches
fast jeden Wiener auf mehrere Monate dem Treiben der Stadt, mit allen seinen
Auswüchsen und Lastern entrückt.

Zu keiner Stadt der Welt dürfte wohl die Sehnsucht nach dem Landleben so
groß sein, wie in Wien. Kaum daß die Bäume im Prater grün werden, so rich¬
tet schon die ganze Bevölkerung ihre sehnsüchtigen Blicke hinaus jenseits der Linien,
die die Stadt umziehen. Die Umgegend ist hier so reizend, so üppig, und die von
Staub und allerlei Dünsten geschwängerte Stadtlust so ungesund, daß ber Hang,
die Sommermonate auf dem Lande zuzubringen, sehr erklärlich ist. Andererseits
hat dieser Trieb in den umliegenden Ortschaften die Erbauung vieler herrlichen
Landhäuser „und Sommerwohnungen zur Folge gehabt, und die städtische Be¬
quemlichkeit, die man da überall findet, die immerwährend bereit stehenden Stell¬
wagen, mit welchen man' zu jeder Stunde des Tags für zehn bis zwanzig Silber-
krcuzer nach jedem der in dem Umkreise von vier bis fünf Stunden liegenden Ort¬
schaften fahren kann, haben ihrerseits wieder diese Liebhaberei gesteigert. Fast je«
der.nur halbwegs bemittelte Mann hat für sich und seine Familie ein Sommcr-
quartier in Hi'tzmg, Döbling, Heiligenstadt, Mödling, Se. Veit, Baden, Dorn¬
bach in. gemiethet. Der Beamte oder der Ncgoziant, den seine Geschäfte an die
Stadt fesseln, fährt früh mit dem Stellwagen von seinem TuScull.mcib und ist in
kürzester Zeit in seinem Bureau oder Gewölbe. Der Banquier, der um zwölf Uhr
die Börse besuchen muß, macht diese Tour einige Stunden später, und Nachmit¬
tags um fünf Uhr kann man die berühmtesten Schauspieler und Sänger der bei¬
den Hoftheater auf dem Stellwagen sprechen, denn sie eilen der Stadt zu, weil sie
um sieben Uhr im vollen Costüm auf den Brettern erscheinen müssen Bis Mit-


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[0605] des Herzens herüberkommen, Phrasen statt der Grundsätze/ Vorurtheile statt des Wissens, Formen statt der Sitte lehren, und notwendigerweise ein Volk verach¬ ten müssen, das seine Kinder von solchen, als sie sind, erziehen läßt. Merkwürdig ist> daß unsere Censur sich bei Weitem gelinder gegen französi¬ sche Bücher als gegen deutsche zeigt. Diese Maßregel ist zwar nicht inconsequent. Der Käufer eines französischen Buches gehört zweifelsohne bereits den wohlhaben¬ den Klassen an, bei welcher revolutionäre Ideen nicht so zugänglich sind. So kömmt es, daß Übersetzungen französischer Werke, welche bereits eine deutsche Cen¬ sur passirten und von dem allergefährlichsten gereinigt worden sind, dennoch mit dem schweren Bann des Deleatur getroffen werden, während das Original¬ werk mit einem leichten Transeat davon kömmt. Der Hauptgrund hievon liegt aber darin, daß fast der ganze Adel mit französischer Literatur sich verproviantirt,, und eine allzu strenge Maßregel gegen diese zu gar vielen Reklamationen führen würde. - Doch kommen wir zurück auf den Frühling, auf das Sommerleben, welches fast jeden Wiener auf mehrere Monate dem Treiben der Stadt, mit allen seinen Auswüchsen und Lastern entrückt. Zu keiner Stadt der Welt dürfte wohl die Sehnsucht nach dem Landleben so groß sein, wie in Wien. Kaum daß die Bäume im Prater grün werden, so rich¬ tet schon die ganze Bevölkerung ihre sehnsüchtigen Blicke hinaus jenseits der Linien, die die Stadt umziehen. Die Umgegend ist hier so reizend, so üppig, und die von Staub und allerlei Dünsten geschwängerte Stadtlust so ungesund, daß ber Hang, die Sommermonate auf dem Lande zuzubringen, sehr erklärlich ist. Andererseits hat dieser Trieb in den umliegenden Ortschaften die Erbauung vieler herrlichen Landhäuser „und Sommerwohnungen zur Folge gehabt, und die städtische Be¬ quemlichkeit, die man da überall findet, die immerwährend bereit stehenden Stell¬ wagen, mit welchen man' zu jeder Stunde des Tags für zehn bis zwanzig Silber- krcuzer nach jedem der in dem Umkreise von vier bis fünf Stunden liegenden Ort¬ schaften fahren kann, haben ihrerseits wieder diese Liebhaberei gesteigert. Fast je« der.nur halbwegs bemittelte Mann hat für sich und seine Familie ein Sommcr- quartier in Hi'tzmg, Döbling, Heiligenstadt, Mödling, Se. Veit, Baden, Dorn¬ bach in. gemiethet. Der Beamte oder der Ncgoziant, den seine Geschäfte an die Stadt fesseln, fährt früh mit dem Stellwagen von seinem TuScull.mcib und ist in kürzester Zeit in seinem Bureau oder Gewölbe. Der Banquier, der um zwölf Uhr die Börse besuchen muß, macht diese Tour einige Stunden später, und Nachmit¬ tags um fünf Uhr kann man die berühmtesten Schauspieler und Sänger der bei¬ den Hoftheater auf dem Stellwagen sprechen, denn sie eilen der Stadt zu, weil sie um sieben Uhr im vollen Costüm auf den Brettern erscheinen müssen Bis Mit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/605>, abgerufen am 23.07.2024.