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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester.

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Drama schreit die eine: Ich bin die Königin, und du mußt vor mir
knieen, indeß die andere ruft: Du bist ein Bastard, und mir gebührt die
Krone.,

Wahrlich, wenn jene griechische Fabel je eine passende Anwendung ge¬
funden hat, so ist es hier der Fall.-- "Die deutsche Literatur-ist Plump,
weitschweifig, unpraktisch, träumerisch" -- schreit man in Frankreich;
bis^ französische Literatur ist seicht, unpoetisch, .frivol, unmoralisch, nach
augenblicklichem Effekt haschend, -- schreit man in Deutschland. Den Sack,
der auf dem Rücken hängt, sehen beide nicht. Könnte jede dieser Li¬
teraturen aus sich heraustreten, und von rückwärts sich beschauen, dann
würde sie gerechter gegen die andere, und weniger eingebildet auf sich
selbst sein; in dein ewigen Kreis ihrer Selbstbespiegelung sieht sie sich stets
nur von vorn und lächelt behaglich nur ihrem eigenen Bilde zu.

, Aber der geschichtliche Gott, der keinen Widerspruch ungelöst, und
keinen Gegensatz unvermittelt läßt, hat auch .hier Brücken geschlagen und
vermittelnde Punkte zwischen beide Partheien hingestellt. Es ist bekannt,
was die Schweiz, und namentlich das kleine Genf in dieser Beziehung
gewirkt hat. , Rousseau und die Stael sind zwei Fahnenträger, die
deutsche Ideen in Frankreich und französische Ideen in Deutschland po¬
pulär gemacht haben. Aber die Schweiz in ihrer starren Einseitigkeit ist
auf halbem Wege stehen geblieben; es bedarf, eines schmiegsamern, eines
jüngern und modernem Geistes, um das begonnene Werk zu vollenden, und
wer Ware dazu geeigneter als -- Belgien! Hier in diesem unabhängigen
Zwischenlande, das ein deutscherund französischer Volksstamm gemeinschaft¬
lich bewohnt, Wo Deutsche und Franzosen in gleicher Anzahl das Gast¬
recht genießen, hier auf diesem -Boden,-wo die ersten Keime germani¬
scher Poesie, wie der Reineke Bos :c. entsprungen, während in neuester Zeit
die Erzeugnisse der französischen Literatur gerade von hier aus ihre Alles
überschwemmende Weltwanderung antreten, hier. wäre vielleicht der ei¬
gentliche Punkt, von wo aus man gerecht-und partheilos den Geist
beider Literaturen beurtheilen, und Schatten und Licht, und Borzüge
und Mängel am besten abwiegen könnte.

Allein mit Schmerz muß man es eingestehen, daß Belgien die
hohe und schöne Mission, zu der es berufen, nicht genügend erkennt.
Rührend ist es zu bemerken, wie die edelsten Geister und Patrioten die¬
ses Landes sich bemühen, das Nationalgefühl zu heben und die Saat
zu einer Nationalliteratur auszustreuen, ohne zu jenem - erfreulichen Re¬
sultate zu gelangen, welches so wohlgemeinte Bemühungen verdienen.


Drama schreit die eine: Ich bin die Königin, und du mußt vor mir
knieen, indeß die andere ruft: Du bist ein Bastard, und mir gebührt die
Krone.,

Wahrlich, wenn jene griechische Fabel je eine passende Anwendung ge¬
funden hat, so ist es hier der Fall.— "Die deutsche Literatur-ist Plump,
weitschweifig, unpraktisch, träumerisch" — schreit man in Frankreich;
bis^ französische Literatur ist seicht, unpoetisch, .frivol, unmoralisch, nach
augenblicklichem Effekt haschend, — schreit man in Deutschland. Den Sack,
der auf dem Rücken hängt, sehen beide nicht. Könnte jede dieser Li¬
teraturen aus sich heraustreten, und von rückwärts sich beschauen, dann
würde sie gerechter gegen die andere, und weniger eingebildet auf sich
selbst sein; in dein ewigen Kreis ihrer Selbstbespiegelung sieht sie sich stets
nur von vorn und lächelt behaglich nur ihrem eigenen Bilde zu.

, Aber der geschichtliche Gott, der keinen Widerspruch ungelöst, und
keinen Gegensatz unvermittelt läßt, hat auch .hier Brücken geschlagen und
vermittelnde Punkte zwischen beide Partheien hingestellt. Es ist bekannt,
was die Schweiz, und namentlich das kleine Genf in dieser Beziehung
gewirkt hat. , Rousseau und die Stael sind zwei Fahnenträger, die
deutsche Ideen in Frankreich und französische Ideen in Deutschland po¬
pulär gemacht haben. Aber die Schweiz in ihrer starren Einseitigkeit ist
auf halbem Wege stehen geblieben; es bedarf, eines schmiegsamern, eines
jüngern und modernem Geistes, um das begonnene Werk zu vollenden, und
wer Ware dazu geeigneter als — Belgien! Hier in diesem unabhängigen
Zwischenlande, das ein deutscherund französischer Volksstamm gemeinschaft¬
lich bewohnt, Wo Deutsche und Franzosen in gleicher Anzahl das Gast¬
recht genießen, hier auf diesem -Boden,-wo die ersten Keime germani¬
scher Poesie, wie der Reineke Bos :c. entsprungen, während in neuester Zeit
die Erzeugnisse der französischen Literatur gerade von hier aus ihre Alles
überschwemmende Weltwanderung antreten, hier. wäre vielleicht der ei¬
gentliche Punkt, von wo aus man gerecht-und partheilos den Geist
beider Literaturen beurtheilen, und Schatten und Licht, und Borzüge
und Mängel am besten abwiegen könnte.

Allein mit Schmerz muß man es eingestehen, daß Belgien die
hohe und schöne Mission, zu der es berufen, nicht genügend erkennt.
Rührend ist es zu bemerken, wie die edelsten Geister und Patrioten die¬
ses Landes sich bemühen, das Nationalgefühl zu heben und die Saat
zu einer Nationalliteratur auszustreuen, ohne zu jenem - erfreulichen Re¬
sultate zu gelangen, welches so wohlgemeinte Bemühungen verdienen.


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[0012] Drama schreit die eine: Ich bin die Königin, und du mußt vor mir knieen, indeß die andere ruft: Du bist ein Bastard, und mir gebührt die Krone., Wahrlich, wenn jene griechische Fabel je eine passende Anwendung ge¬ funden hat, so ist es hier der Fall.— "Die deutsche Literatur-ist Plump, weitschweifig, unpraktisch, träumerisch" — schreit man in Frankreich; bis^ französische Literatur ist seicht, unpoetisch, .frivol, unmoralisch, nach augenblicklichem Effekt haschend, — schreit man in Deutschland. Den Sack, der auf dem Rücken hängt, sehen beide nicht. Könnte jede dieser Li¬ teraturen aus sich heraustreten, und von rückwärts sich beschauen, dann würde sie gerechter gegen die andere, und weniger eingebildet auf sich selbst sein; in dein ewigen Kreis ihrer Selbstbespiegelung sieht sie sich stets nur von vorn und lächelt behaglich nur ihrem eigenen Bilde zu. , Aber der geschichtliche Gott, der keinen Widerspruch ungelöst, und keinen Gegensatz unvermittelt läßt, hat auch .hier Brücken geschlagen und vermittelnde Punkte zwischen beide Partheien hingestellt. Es ist bekannt, was die Schweiz, und namentlich das kleine Genf in dieser Beziehung gewirkt hat. , Rousseau und die Stael sind zwei Fahnenträger, die deutsche Ideen in Frankreich und französische Ideen in Deutschland po¬ pulär gemacht haben. Aber die Schweiz in ihrer starren Einseitigkeit ist auf halbem Wege stehen geblieben; es bedarf, eines schmiegsamern, eines jüngern und modernem Geistes, um das begonnene Werk zu vollenden, und wer Ware dazu geeigneter als — Belgien! Hier in diesem unabhängigen Zwischenlande, das ein deutscherund französischer Volksstamm gemeinschaft¬ lich bewohnt, Wo Deutsche und Franzosen in gleicher Anzahl das Gast¬ recht genießen, hier auf diesem -Boden,-wo die ersten Keime germani¬ scher Poesie, wie der Reineke Bos :c. entsprungen, während in neuester Zeit die Erzeugnisse der französischen Literatur gerade von hier aus ihre Alles überschwemmende Weltwanderung antreten, hier. wäre vielleicht der ei¬ gentliche Punkt, von wo aus man gerecht-und partheilos den Geist beider Literaturen beurtheilen, und Schatten und Licht, und Borzüge und Mängel am besten abwiegen könnte. Allein mit Schmerz muß man es eingestehen, daß Belgien die hohe und schöne Mission, zu der es berufen, nicht genügend erkennt. Rührend ist es zu bemerken, wie die edelsten Geister und Patrioten die¬ ses Landes sich bemühen, das Nationalgefühl zu heben und die Saat zu einer Nationalliteratur auszustreuen, ohne zu jenem - erfreulichen Re¬ sultate zu gelangen, welches so wohlgemeinte Bemühungen verdienen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Erstes Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_267214/12>, abgerufen am 30.06.2024.