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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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ste" Seeromane der Engländer, die fratzenhaftesten Revolutions- und
NapoleonSgcschichten der Franzosen baben für ihren Mangel an
ästhetischem Gehalt immer noch irgend ein volksthümliches Element,
wodurch <le den Haufen reizen und wodurch ihre Existenz sich moti-
viren läßt. Die deutschen Erzeugnisse solchen Ranges entbehren selbst
dieses Hebels. Und doch sahen wir durch ein halbes Jahrhundert
das Publikum immer frisch und unerntüdet nach derartigen Fabrik"^
mi greifen. Bei dem Mangel an Nationalbewußtsein und politi¬
scher Rcgbarkeit war es der Masse gleichartig, aus welchen Kreisen
und Nationen man die Helden der Geschichten wählte, die seine gut¬
müthige Neugier und seine naive Einbildungskraft zu sättigen be¬
stimmt waren.

Aus dieser Apathie, aus dieser Kinderstuben-Naivetät erwacht
nun daS deutsche Publikum. Ein Blick in den Mcßkatalog und
man wird finden, daß die Bedürfnisse der Lesewelt ernster, männli¬
cher und zweckbewußter geworden sind. Die politischen Schriften er¬
schienen in größerer Zahl als je, und es ist nicht mehr China und
Bessarabien, um welche es sich dreht, sondern Deutschland ist der
Mittelpunkt der Debatten. Man sieht, die große Masse der Na¬
tion ist näher herangetreten, die Verhandlungen der vaterländischen
Interessen zu beobachten.

Die Lyrik, welche bei den Deutschen immer voranläuft, hat
diese Wendung schon lange voraus versündigt. Die politischen Dich¬
ter sind wie die Quartiermacher der langsam nachziehenden Masse
vorangelaufcn. Die Journale trotten, so gut es bei den Schwierig¬
keiten und Hindernissen des Terrains gehen will, rüstig nach. Daß
bet uns die Lvrik eher die Bewegung der Zeit verkündigt als
die Journalistik, ist ein tiefer Charakterzug des deutschen Volkes.
Die Lyrik ist ihm angeboren; für die Journalistik muH es erst seine
Erziehung durchmachen. In dieser letzten Schule hat es noch eine
große Strecke Weges vor sich, bevor es die anderen Nationen errei¬
chen wird.

Man muß dem deutschen Publikum nicht allzuviel Kompli¬
mente machen. Es ist ein schlechter Dienst, den man ihm erweist,
wenn mau ihm -- wie dieses in unserer Zeit oft geschehen ist --
einreden will, es sei überaus klug und edelmüthig und uneigennützig,
und es gehe allen andern Völkern auf dem großen Weg zur Voll-


ste» Seeromane der Engländer, die fratzenhaftesten Revolutions- und
NapoleonSgcschichten der Franzosen baben für ihren Mangel an
ästhetischem Gehalt immer noch irgend ein volksthümliches Element,
wodurch <le den Haufen reizen und wodurch ihre Existenz sich moti-
viren läßt. Die deutschen Erzeugnisse solchen Ranges entbehren selbst
dieses Hebels. Und doch sahen wir durch ein halbes Jahrhundert
das Publikum immer frisch und unerntüdet nach derartigen Fabrik«^
mi greifen. Bei dem Mangel an Nationalbewußtsein und politi¬
scher Rcgbarkeit war es der Masse gleichartig, aus welchen Kreisen
und Nationen man die Helden der Geschichten wählte, die seine gut¬
müthige Neugier und seine naive Einbildungskraft zu sättigen be¬
stimmt waren.

Aus dieser Apathie, aus dieser Kinderstuben-Naivetät erwacht
nun daS deutsche Publikum. Ein Blick in den Mcßkatalog und
man wird finden, daß die Bedürfnisse der Lesewelt ernster, männli¬
cher und zweckbewußter geworden sind. Die politischen Schriften er¬
schienen in größerer Zahl als je, und es ist nicht mehr China und
Bessarabien, um welche es sich dreht, sondern Deutschland ist der
Mittelpunkt der Debatten. Man sieht, die große Masse der Na¬
tion ist näher herangetreten, die Verhandlungen der vaterländischen
Interessen zu beobachten.

Die Lyrik, welche bei den Deutschen immer voranläuft, hat
diese Wendung schon lange voraus versündigt. Die politischen Dich¬
ter sind wie die Quartiermacher der langsam nachziehenden Masse
vorangelaufcn. Die Journale trotten, so gut es bei den Schwierig¬
keiten und Hindernissen des Terrains gehen will, rüstig nach. Daß
bet uns die Lvrik eher die Bewegung der Zeit verkündigt als
die Journalistik, ist ein tiefer Charakterzug des deutschen Volkes.
Die Lyrik ist ihm angeboren; für die Journalistik muH es erst seine
Erziehung durchmachen. In dieser letzten Schule hat es noch eine
große Strecke Weges vor sich, bevor es die anderen Nationen errei¬
chen wird.

Man muß dem deutschen Publikum nicht allzuviel Kompli¬
mente machen. Es ist ein schlechter Dienst, den man ihm erweist,
wenn mau ihm — wie dieses in unserer Zeit oft geschehen ist —
einreden will, es sei überaus klug und edelmüthig und uneigennützig,
und es gehe allen andern Völkern auf dem großen Weg zur Voll-


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[0090] ste» Seeromane der Engländer, die fratzenhaftesten Revolutions- und NapoleonSgcschichten der Franzosen baben für ihren Mangel an ästhetischem Gehalt immer noch irgend ein volksthümliches Element, wodurch <le den Haufen reizen und wodurch ihre Existenz sich moti- viren läßt. Die deutschen Erzeugnisse solchen Ranges entbehren selbst dieses Hebels. Und doch sahen wir durch ein halbes Jahrhundert das Publikum immer frisch und unerntüdet nach derartigen Fabrik«^ mi greifen. Bei dem Mangel an Nationalbewußtsein und politi¬ scher Rcgbarkeit war es der Masse gleichartig, aus welchen Kreisen und Nationen man die Helden der Geschichten wählte, die seine gut¬ müthige Neugier und seine naive Einbildungskraft zu sättigen be¬ stimmt waren. Aus dieser Apathie, aus dieser Kinderstuben-Naivetät erwacht nun daS deutsche Publikum. Ein Blick in den Mcßkatalog und man wird finden, daß die Bedürfnisse der Lesewelt ernster, männli¬ cher und zweckbewußter geworden sind. Die politischen Schriften er¬ schienen in größerer Zahl als je, und es ist nicht mehr China und Bessarabien, um welche es sich dreht, sondern Deutschland ist der Mittelpunkt der Debatten. Man sieht, die große Masse der Na¬ tion ist näher herangetreten, die Verhandlungen der vaterländischen Interessen zu beobachten. Die Lyrik, welche bei den Deutschen immer voranläuft, hat diese Wendung schon lange voraus versündigt. Die politischen Dich¬ ter sind wie die Quartiermacher der langsam nachziehenden Masse vorangelaufcn. Die Journale trotten, so gut es bei den Schwierig¬ keiten und Hindernissen des Terrains gehen will, rüstig nach. Daß bet uns die Lvrik eher die Bewegung der Zeit verkündigt als die Journalistik, ist ein tiefer Charakterzug des deutschen Volkes. Die Lyrik ist ihm angeboren; für die Journalistik muH es erst seine Erziehung durchmachen. In dieser letzten Schule hat es noch eine große Strecke Weges vor sich, bevor es die anderen Nationen errei¬ chen wird. Man muß dem deutschen Publikum nicht allzuviel Kompli¬ mente machen. Es ist ein schlechter Dienst, den man ihm erweist, wenn mau ihm — wie dieses in unserer Zeit oft geschehen ist — einreden will, es sei überaus klug und edelmüthig und uneigennützig, und es gehe allen andern Völkern auf dem großen Weg zur Voll-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/90>, abgerufen am 23.07.2024.