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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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sehen aber sämmtlich, daß ihre Mittel anwenden, nur hieße: der be¬
stehenden Verwirrung durch eine neue Unordnung, dem gegenwär¬
tigen Unglück durch eine Ungerechtigkeit und der augenblicklichen
Haltlosigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen durch eine Vernich¬
tung der ewigen Gesetze, aus die sie gegründet sind, abhelfen.
Daher haben diese Theorien, wo man sie in ihrer Unreife vorschnell
und verwegen in's Leben setzte, nur große Tumulte und viel Skan¬
dal zu Wege gebracht. Darum sind sie gerade in Deutschland, das
zwar das Land der Systeme, aber auch das der Stabilität ist, bis¬
her unbeachtet geblieben. Dagegen muß man sich aber auch hüten,
das Kind mit dem Bade zu verschütten. Denn, wie sich eben in
neuester Zeit herausstellt, haben diese ersten unreifen Versuche und
Fehlgeburten doch nützliche Forschungen hinterlassen; einigen edlen
Denkern ist ein neuer Impuls dadurch gegeben worden. Noch ist
zwar das Heilmittel für die Krankheit unseres Gesellschastskörpers
nicht gefunden, aber wenigstens ist doch der Sitz des Uebels nun
auf's deutlichste und bestimmteste angezeigt und die Illusionen, welche
es bisher vor den Augen so Vieler verbargen, sind geschwunden und
wir sehen freilich leider manchen tief klaffenden Abgrund.

Unter den zahlreichen Thatsachen, welche in Folge dieser Ana¬
lyse unserer gesellschaftlichen Zustände sich herausgestellt haben, ist
eine, von der alle übrigen beherrscht werden und deren verschiedene
Ursachen und Wirkungen daher mit besonderer Vorliebe auseinan¬
dergesetzt worden sind. ES ist dies die Thatsache des Elends der
arbeitenden Classen, der Pauperismus. Ein neues Wort, ein ener¬
gischer Ausdruck, der geschaffen ward, um von einer bisher unbe¬
kannten Situation ein vollständiges, wahres Bild zu geben. Wäh¬
rend bet den andern Thatsachen die höheren Stände unachtsam
blieben, wurden sie in Gegenwart dieses Uebels, das man ihnen
jetzt als einen herandrängenden, in seinem Rachedurst oder vielmehr
in seiner pressenden Noth unbarmherzigen Feind schilderte, plötzlich
aufmerksam. Die furchtsameren Gemüther ergaben sich von vorn¬
herein geduldig in ihr Schicksal; muthigere und verständigere Män¬
ner dieser Classen aber sahen ein, daß in solcher starren Unbeweg-
lichkeit kein Heil liegen könne. Sie machten sich daher an's Werk
und fingen an, nach Mitteln zu forschen, vermöge deren sie ohne
einen gewaltsamen Umsturz der jetzt bestehenden, nothwendigen Ort-


sehen aber sämmtlich, daß ihre Mittel anwenden, nur hieße: der be¬
stehenden Verwirrung durch eine neue Unordnung, dem gegenwär¬
tigen Unglück durch eine Ungerechtigkeit und der augenblicklichen
Haltlosigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen durch eine Vernich¬
tung der ewigen Gesetze, aus die sie gegründet sind, abhelfen.
Daher haben diese Theorien, wo man sie in ihrer Unreife vorschnell
und verwegen in's Leben setzte, nur große Tumulte und viel Skan¬
dal zu Wege gebracht. Darum sind sie gerade in Deutschland, das
zwar das Land der Systeme, aber auch das der Stabilität ist, bis¬
her unbeachtet geblieben. Dagegen muß man sich aber auch hüten,
das Kind mit dem Bade zu verschütten. Denn, wie sich eben in
neuester Zeit herausstellt, haben diese ersten unreifen Versuche und
Fehlgeburten doch nützliche Forschungen hinterlassen; einigen edlen
Denkern ist ein neuer Impuls dadurch gegeben worden. Noch ist
zwar das Heilmittel für die Krankheit unseres Gesellschastskörpers
nicht gefunden, aber wenigstens ist doch der Sitz des Uebels nun
auf's deutlichste und bestimmteste angezeigt und die Illusionen, welche
es bisher vor den Augen so Vieler verbargen, sind geschwunden und
wir sehen freilich leider manchen tief klaffenden Abgrund.

Unter den zahlreichen Thatsachen, welche in Folge dieser Ana¬
lyse unserer gesellschaftlichen Zustände sich herausgestellt haben, ist
eine, von der alle übrigen beherrscht werden und deren verschiedene
Ursachen und Wirkungen daher mit besonderer Vorliebe auseinan¬
dergesetzt worden sind. ES ist dies die Thatsache des Elends der
arbeitenden Classen, der Pauperismus. Ein neues Wort, ein ener¬
gischer Ausdruck, der geschaffen ward, um von einer bisher unbe¬
kannten Situation ein vollständiges, wahres Bild zu geben. Wäh¬
rend bet den andern Thatsachen die höheren Stände unachtsam
blieben, wurden sie in Gegenwart dieses Uebels, das man ihnen
jetzt als einen herandrängenden, in seinem Rachedurst oder vielmehr
in seiner pressenden Noth unbarmherzigen Feind schilderte, plötzlich
aufmerksam. Die furchtsameren Gemüther ergaben sich von vorn¬
herein geduldig in ihr Schicksal; muthigere und verständigere Män¬
ner dieser Classen aber sahen ein, daß in solcher starren Unbeweg-
lichkeit kein Heil liegen könne. Sie machten sich daher an's Werk
und fingen an, nach Mitteln zu forschen, vermöge deren sie ohne
einen gewaltsamen Umsturz der jetzt bestehenden, nothwendigen Ort-


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[0569] sehen aber sämmtlich, daß ihre Mittel anwenden, nur hieße: der be¬ stehenden Verwirrung durch eine neue Unordnung, dem gegenwär¬ tigen Unglück durch eine Ungerechtigkeit und der augenblicklichen Haltlosigkeit der gesellschaftlichen Einrichtungen durch eine Vernich¬ tung der ewigen Gesetze, aus die sie gegründet sind, abhelfen. Daher haben diese Theorien, wo man sie in ihrer Unreife vorschnell und verwegen in's Leben setzte, nur große Tumulte und viel Skan¬ dal zu Wege gebracht. Darum sind sie gerade in Deutschland, das zwar das Land der Systeme, aber auch das der Stabilität ist, bis¬ her unbeachtet geblieben. Dagegen muß man sich aber auch hüten, das Kind mit dem Bade zu verschütten. Denn, wie sich eben in neuester Zeit herausstellt, haben diese ersten unreifen Versuche und Fehlgeburten doch nützliche Forschungen hinterlassen; einigen edlen Denkern ist ein neuer Impuls dadurch gegeben worden. Noch ist zwar das Heilmittel für die Krankheit unseres Gesellschastskörpers nicht gefunden, aber wenigstens ist doch der Sitz des Uebels nun auf's deutlichste und bestimmteste angezeigt und die Illusionen, welche es bisher vor den Augen so Vieler verbargen, sind geschwunden und wir sehen freilich leider manchen tief klaffenden Abgrund. Unter den zahlreichen Thatsachen, welche in Folge dieser Ana¬ lyse unserer gesellschaftlichen Zustände sich herausgestellt haben, ist eine, von der alle übrigen beherrscht werden und deren verschiedene Ursachen und Wirkungen daher mit besonderer Vorliebe auseinan¬ dergesetzt worden sind. ES ist dies die Thatsache des Elends der arbeitenden Classen, der Pauperismus. Ein neues Wort, ein ener¬ gischer Ausdruck, der geschaffen ward, um von einer bisher unbe¬ kannten Situation ein vollständiges, wahres Bild zu geben. Wäh¬ rend bet den andern Thatsachen die höheren Stände unachtsam blieben, wurden sie in Gegenwart dieses Uebels, das man ihnen jetzt als einen herandrängenden, in seinem Rachedurst oder vielmehr in seiner pressenden Noth unbarmherzigen Feind schilderte, plötzlich aufmerksam. Die furchtsameren Gemüther ergaben sich von vorn¬ herein geduldig in ihr Schicksal; muthigere und verständigere Män¬ ner dieser Classen aber sahen ein, daß in solcher starren Unbeweg- lichkeit kein Heil liegen könne. Sie machten sich daher an's Werk und fingen an, nach Mitteln zu forschen, vermöge deren sie ohne einen gewaltsamen Umsturz der jetzt bestehenden, nothwendigen Ort-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/569>, abgerufen am 23.07.2024.