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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Das Laicnevangelium bringt eine Reihe von Gedichten, über alle mögli¬
chen Stellen der Evangelien, die nur irgend einen Anlaß zu poetisch-contem-
plativer Behandlung hergeben. Man muß die Ausdauer des Verfassers bewun¬
dern, daß er, statt frei seiner Inspiration sich zu vertrauen, das System
seiner Gedanken, denn so können wir es wohl nennen, immer an einen Text,
an ein Factum, eine Lehre seines Landes anknüpfte. Gemähre von den Ideen
einer angesehenen Philosophenschulc, hat er sich die Aufgabe gestellt, diese Ideen
und die tausendfache Anwendung derselben in der sittlichen Welt, den Bibel¬
stellen aufzuprägen, welche seinen Lehrgcsängen zu Grunde liegen. Wir unter¬
suchen hier nicht die Wahrheit seiner Grundsätze, und die Richtigkeit, der Aus¬
legung seiner Texte; der Leser wird nicht lange suchen müssen, um auf die
Lehren zu stoßen, welche in der jüngsten Zeit die theologische und philoso¬
phische Welt aufgeregt haben. Wir, die wir uns zu jenen Ansichten nicht
bekennen, fassen hier das Buch von Sattel nur als Kunstwerk auf. In
seiner Aufgabe lag offenbar die freieste, ideellste Behandlung der Schrift; und
diese ist ihm in, manchen Stücken allerdings gelungen. Nur will uns ti
Doppelnatur des Buchs nicht behagen, das bald in den Ton einer Predigt,
bald, mit gedämpften Saiten, in den der Poesie einschlägt. Der Verfasser
ist von der Dogmatik, von dem naiven Glauben zu weit abgewandt, um im
Herderschcn Legendentone zu uns zu reden; er ist zu sehr Philosoph, um mit
Glück den Prediger zu spielen; und doch macht er zu gewissenhaft den Meister
und Interpreten, um Sänger und singender Weiser zu sein. Wenn wir die
Masse an Gedanken, an poetischen Keimen und Trieben, die im Werke ver¬
streut sind, überschlagen, so können wir den Wunsch nicht zurückhalten, daß
diese Kräfte, diese Stosse völlig entbunden wäre, daß der Dichter eine erhabene,
eine kühnere Form gewählt hätte, daß er hie und da, um der Sammlung
mehr Schwung und Gluth zu verleihen, sich eben so sehr dem Hymncndichter
genähert haben möchte, wie er jetzt meistentheils dem Schulmeister in's Ge¬
werbe greift. Ein kalter Stoff, wie solche Lchrbetrachtungen sind, und es soll
das durchaus kein Borwurs sein, kann nur durch eine höhere Conception be¬
feuert und zur Schönheit gebracht werden. Wir verlangen hier nichts Unmög¬
liches. In der "Weisheit des Brahmanen" z. B. ist unsere Forderung an
mehr als Einer Stelle erfüllt. >

Was Herr v. Sattel in seinem Evangelium geleistet, bezeichnen wir mit
Einem Worte vollständig: eine Vergeistigung der Evangelien, nach den
Ideen der Schule, der er angehört. Der Geist ist das Panier, zu dem er
geschworen; in ihm geht ihm die Menschheit aus; von Natur ist überhaupt


Das Laicnevangelium bringt eine Reihe von Gedichten, über alle mögli¬
chen Stellen der Evangelien, die nur irgend einen Anlaß zu poetisch-contem-
plativer Behandlung hergeben. Man muß die Ausdauer des Verfassers bewun¬
dern, daß er, statt frei seiner Inspiration sich zu vertrauen, das System
seiner Gedanken, denn so können wir es wohl nennen, immer an einen Text,
an ein Factum, eine Lehre seines Landes anknüpfte. Gemähre von den Ideen
einer angesehenen Philosophenschulc, hat er sich die Aufgabe gestellt, diese Ideen
und die tausendfache Anwendung derselben in der sittlichen Welt, den Bibel¬
stellen aufzuprägen, welche seinen Lehrgcsängen zu Grunde liegen. Wir unter¬
suchen hier nicht die Wahrheit seiner Grundsätze, und die Richtigkeit, der Aus¬
legung seiner Texte; der Leser wird nicht lange suchen müssen, um auf die
Lehren zu stoßen, welche in der jüngsten Zeit die theologische und philoso¬
phische Welt aufgeregt haben. Wir, die wir uns zu jenen Ansichten nicht
bekennen, fassen hier das Buch von Sattel nur als Kunstwerk auf. In
seiner Aufgabe lag offenbar die freieste, ideellste Behandlung der Schrift; und
diese ist ihm in, manchen Stücken allerdings gelungen. Nur will uns ti
Doppelnatur des Buchs nicht behagen, das bald in den Ton einer Predigt,
bald, mit gedämpften Saiten, in den der Poesie einschlägt. Der Verfasser
ist von der Dogmatik, von dem naiven Glauben zu weit abgewandt, um im
Herderschcn Legendentone zu uns zu reden; er ist zu sehr Philosoph, um mit
Glück den Prediger zu spielen; und doch macht er zu gewissenhaft den Meister
und Interpreten, um Sänger und singender Weiser zu sein. Wenn wir die
Masse an Gedanken, an poetischen Keimen und Trieben, die im Werke ver¬
streut sind, überschlagen, so können wir den Wunsch nicht zurückhalten, daß
diese Kräfte, diese Stosse völlig entbunden wäre, daß der Dichter eine erhabene,
eine kühnere Form gewählt hätte, daß er hie und da, um der Sammlung
mehr Schwung und Gluth zu verleihen, sich eben so sehr dem Hymncndichter
genähert haben möchte, wie er jetzt meistentheils dem Schulmeister in's Ge¬
werbe greift. Ein kalter Stoff, wie solche Lchrbetrachtungen sind, und es soll
das durchaus kein Borwurs sein, kann nur durch eine höhere Conception be¬
feuert und zur Schönheit gebracht werden. Wir verlangen hier nichts Unmög¬
liches. In der „Weisheit des Brahmanen" z. B. ist unsere Forderung an
mehr als Einer Stelle erfüllt. >

Was Herr v. Sattel in seinem Evangelium geleistet, bezeichnen wir mit
Einem Worte vollständig: eine Vergeistigung der Evangelien, nach den
Ideen der Schule, der er angehört. Der Geist ist das Panier, zu dem er
geschworen; in ihm geht ihm die Menschheit aus; von Natur ist überhaupt


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[0491] Das Laicnevangelium bringt eine Reihe von Gedichten, über alle mögli¬ chen Stellen der Evangelien, die nur irgend einen Anlaß zu poetisch-contem- plativer Behandlung hergeben. Man muß die Ausdauer des Verfassers bewun¬ dern, daß er, statt frei seiner Inspiration sich zu vertrauen, das System seiner Gedanken, denn so können wir es wohl nennen, immer an einen Text, an ein Factum, eine Lehre seines Landes anknüpfte. Gemähre von den Ideen einer angesehenen Philosophenschulc, hat er sich die Aufgabe gestellt, diese Ideen und die tausendfache Anwendung derselben in der sittlichen Welt, den Bibel¬ stellen aufzuprägen, welche seinen Lehrgcsängen zu Grunde liegen. Wir unter¬ suchen hier nicht die Wahrheit seiner Grundsätze, und die Richtigkeit, der Aus¬ legung seiner Texte; der Leser wird nicht lange suchen müssen, um auf die Lehren zu stoßen, welche in der jüngsten Zeit die theologische und philoso¬ phische Welt aufgeregt haben. Wir, die wir uns zu jenen Ansichten nicht bekennen, fassen hier das Buch von Sattel nur als Kunstwerk auf. In seiner Aufgabe lag offenbar die freieste, ideellste Behandlung der Schrift; und diese ist ihm in, manchen Stücken allerdings gelungen. Nur will uns ti Doppelnatur des Buchs nicht behagen, das bald in den Ton einer Predigt, bald, mit gedämpften Saiten, in den der Poesie einschlägt. Der Verfasser ist von der Dogmatik, von dem naiven Glauben zu weit abgewandt, um im Herderschcn Legendentone zu uns zu reden; er ist zu sehr Philosoph, um mit Glück den Prediger zu spielen; und doch macht er zu gewissenhaft den Meister und Interpreten, um Sänger und singender Weiser zu sein. Wenn wir die Masse an Gedanken, an poetischen Keimen und Trieben, die im Werke ver¬ streut sind, überschlagen, so können wir den Wunsch nicht zurückhalten, daß diese Kräfte, diese Stosse völlig entbunden wäre, daß der Dichter eine erhabene, eine kühnere Form gewählt hätte, daß er hie und da, um der Sammlung mehr Schwung und Gluth zu verleihen, sich eben so sehr dem Hymncndichter genähert haben möchte, wie er jetzt meistentheils dem Schulmeister in's Ge¬ werbe greift. Ein kalter Stoff, wie solche Lchrbetrachtungen sind, und es soll das durchaus kein Borwurs sein, kann nur durch eine höhere Conception be¬ feuert und zur Schönheit gebracht werden. Wir verlangen hier nichts Unmög¬ liches. In der „Weisheit des Brahmanen" z. B. ist unsere Forderung an mehr als Einer Stelle erfüllt. > Was Herr v. Sattel in seinem Evangelium geleistet, bezeichnen wir mit Einem Worte vollständig: eine Vergeistigung der Evangelien, nach den Ideen der Schule, der er angehört. Der Geist ist das Panier, zu dem er geschworen; in ihm geht ihm die Menschheit aus; von Natur ist überhaupt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/491>, abgerufen am 02.07.2024.