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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Nun denn, hier sind wir! Wir beugen unser Haupt! Reiße uns die strup¬
pigen Haare aus, begieße sie mit deinem Oel, damit sie schmiegsam werden und
in seinen, gehorsamen Locken sich kräuseln. Zürne nicht, wenn wir noch einen
Scheideblick auf den schönen Boden, den wir verlassen, zurückwerfen und eine
Thräne uns aus dem Auge wischen; nur noch ein Mal gestatte uns die ver¬
lebten Stunden an uns vorübergehen zu lassen -- es waren schöne Stunden!
Zürne uns nichts wenn wir die Pietät für sie immer in unserem Herzen be¬
wahren.

Wir dürfen vielleicht behaupten, daß wenige deutsche Journale in dem
kurzen Zeitraume eines Jahres eine so eigenthümliche Geschichte hinter sich
haben wie diese Blätter. Die Grenzboten traten aus einem Boden ins Leben,
auf welchem die deutsche Sprache eine fremde ist. In einem Lande, wo die
französische und holländische (flamändische) Zunge sich hartnäckig um jeden Fuß
breit Erde streiten, wie sollte da das Interesse für eine dritte Sprache möglich
sein? Der Redacteur dieser Blätter glaubte an diese Möglichkeit. Ein zwei¬
jähriger Aufenthalt in Brüssel, vielfache Reisen ins Innere des Landes haben
ihn tausend Elemente kennen gelehrt, die alle nach Deutschland hin sich be¬
wegen. Dieß ist keine leere Phrase. Abgesehen von den dreißigtausend Deut¬
schen, welche in Belgien zerstreut leben (in Brüssel allein gegen 10,000) und
zum Theil den Kern des Handelsstandes und des Untervichtswesens bilden, ab¬
gesehen von der Provinz Luxemburg, wo die deutsche Sprache zu der franzö¬
sischen in demselben Verhältnisse wie im Elsaß steht, gewinnt die Borliebe für
deutsche Literatur und Redeweise unter den Flamändern mit jedem Tage eine
größere Ausdehnung. Der Flamänder kann mit wenig Mühe das Deutsche
vollkommen verstehen; seine Culturbedürfnisse treiben ihn, sich dies Verständniß
anzueignen und seine Abneigung gegen die französische Sprache steigert das
noch. Hierzu gesellen sich noch vielfache politische, religiöse und kommerzielle
Rücksichten. Die Regierung, welche die geheimen Gedanken Frankreichs und
das Gelüste, mit dem es aufWelgien blickt, wohl kennt, sucht eifrig an Deutsch¬
land einen Verbündeten und im Nothfalle eine schützende Gewalt zu finden.
Jener Theil des HandelSstandcs, den wie in Antwerpen seine Interessen an
Deutschland knüpfen, sucht fast ängstlich eine Vertretung gegen jene Faction,
die den französischen Zollanschlufi herbeizuführen wünscht. Die gelehrte und die
Kunstwelt, die Literatur, das Unterrichtswesen hat unzählige Vertreter, die
eifrig die vielfach verbreiteten französischen Prinzipien durch deutsche Muster
verdrängt zu sehen wünschen. Und doch, wie wenig wurden alle diese Inter¬
essen bisher von der Presse gefördert. Die belgische Journalistik befindet sich


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Nun denn, hier sind wir! Wir beugen unser Haupt! Reiße uns die strup¬
pigen Haare aus, begieße sie mit deinem Oel, damit sie schmiegsam werden und
in seinen, gehorsamen Locken sich kräuseln. Zürne nicht, wenn wir noch einen
Scheideblick auf den schönen Boden, den wir verlassen, zurückwerfen und eine
Thräne uns aus dem Auge wischen; nur noch ein Mal gestatte uns die ver¬
lebten Stunden an uns vorübergehen zu lassen — es waren schöne Stunden!
Zürne uns nichts wenn wir die Pietät für sie immer in unserem Herzen be¬
wahren.

Wir dürfen vielleicht behaupten, daß wenige deutsche Journale in dem
kurzen Zeitraume eines Jahres eine so eigenthümliche Geschichte hinter sich
haben wie diese Blätter. Die Grenzboten traten aus einem Boden ins Leben,
auf welchem die deutsche Sprache eine fremde ist. In einem Lande, wo die
französische und holländische (flamändische) Zunge sich hartnäckig um jeden Fuß
breit Erde streiten, wie sollte da das Interesse für eine dritte Sprache möglich
sein? Der Redacteur dieser Blätter glaubte an diese Möglichkeit. Ein zwei¬
jähriger Aufenthalt in Brüssel, vielfache Reisen ins Innere des Landes haben
ihn tausend Elemente kennen gelehrt, die alle nach Deutschland hin sich be¬
wegen. Dieß ist keine leere Phrase. Abgesehen von den dreißigtausend Deut¬
schen, welche in Belgien zerstreut leben (in Brüssel allein gegen 10,000) und
zum Theil den Kern des Handelsstandes und des Untervichtswesens bilden, ab¬
gesehen von der Provinz Luxemburg, wo die deutsche Sprache zu der franzö¬
sischen in demselben Verhältnisse wie im Elsaß steht, gewinnt die Borliebe für
deutsche Literatur und Redeweise unter den Flamändern mit jedem Tage eine
größere Ausdehnung. Der Flamänder kann mit wenig Mühe das Deutsche
vollkommen verstehen; seine Culturbedürfnisse treiben ihn, sich dies Verständniß
anzueignen und seine Abneigung gegen die französische Sprache steigert das
noch. Hierzu gesellen sich noch vielfache politische, religiöse und kommerzielle
Rücksichten. Die Regierung, welche die geheimen Gedanken Frankreichs und
das Gelüste, mit dem es aufWelgien blickt, wohl kennt, sucht eifrig an Deutsch¬
land einen Verbündeten und im Nothfalle eine schützende Gewalt zu finden.
Jener Theil des HandelSstandcs, den wie in Antwerpen seine Interessen an
Deutschland knüpfen, sucht fast ängstlich eine Vertretung gegen jene Faction,
die den französischen Zollanschlufi herbeizuführen wünscht. Die gelehrte und die
Kunstwelt, die Literatur, das Unterrichtswesen hat unzählige Vertreter, die
eifrig die vielfach verbreiteten französischen Prinzipien durch deutsche Muster
verdrängt zu sehen wünschen. Und doch, wie wenig wurden alle diese Inter¬
essen bisher von der Presse gefördert. Die belgische Journalistik befindet sich


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[0043] Nun denn, hier sind wir! Wir beugen unser Haupt! Reiße uns die strup¬ pigen Haare aus, begieße sie mit deinem Oel, damit sie schmiegsam werden und in seinen, gehorsamen Locken sich kräuseln. Zürne nicht, wenn wir noch einen Scheideblick auf den schönen Boden, den wir verlassen, zurückwerfen und eine Thräne uns aus dem Auge wischen; nur noch ein Mal gestatte uns die ver¬ lebten Stunden an uns vorübergehen zu lassen — es waren schöne Stunden! Zürne uns nichts wenn wir die Pietät für sie immer in unserem Herzen be¬ wahren. Wir dürfen vielleicht behaupten, daß wenige deutsche Journale in dem kurzen Zeitraume eines Jahres eine so eigenthümliche Geschichte hinter sich haben wie diese Blätter. Die Grenzboten traten aus einem Boden ins Leben, auf welchem die deutsche Sprache eine fremde ist. In einem Lande, wo die französische und holländische (flamändische) Zunge sich hartnäckig um jeden Fuß breit Erde streiten, wie sollte da das Interesse für eine dritte Sprache möglich sein? Der Redacteur dieser Blätter glaubte an diese Möglichkeit. Ein zwei¬ jähriger Aufenthalt in Brüssel, vielfache Reisen ins Innere des Landes haben ihn tausend Elemente kennen gelehrt, die alle nach Deutschland hin sich be¬ wegen. Dieß ist keine leere Phrase. Abgesehen von den dreißigtausend Deut¬ schen, welche in Belgien zerstreut leben (in Brüssel allein gegen 10,000) und zum Theil den Kern des Handelsstandes und des Untervichtswesens bilden, ab¬ gesehen von der Provinz Luxemburg, wo die deutsche Sprache zu der franzö¬ sischen in demselben Verhältnisse wie im Elsaß steht, gewinnt die Borliebe für deutsche Literatur und Redeweise unter den Flamändern mit jedem Tage eine größere Ausdehnung. Der Flamänder kann mit wenig Mühe das Deutsche vollkommen verstehen; seine Culturbedürfnisse treiben ihn, sich dies Verständniß anzueignen und seine Abneigung gegen die französische Sprache steigert das noch. Hierzu gesellen sich noch vielfache politische, religiöse und kommerzielle Rücksichten. Die Regierung, welche die geheimen Gedanken Frankreichs und das Gelüste, mit dem es aufWelgien blickt, wohl kennt, sucht eifrig an Deutsch¬ land einen Verbündeten und im Nothfalle eine schützende Gewalt zu finden. Jener Theil des HandelSstandcs, den wie in Antwerpen seine Interessen an Deutschland knüpfen, sucht fast ängstlich eine Vertretung gegen jene Faction, die den französischen Zollanschlufi herbeizuführen wünscht. Die gelehrte und die Kunstwelt, die Literatur, das Unterrichtswesen hat unzählige Vertreter, die eifrig die vielfach verbreiteten französischen Prinzipien durch deutsche Muster verdrängt zu sehen wünschen. Und doch, wie wenig wurden alle diese Inter¬ essen bisher von der Presse gefördert. Die belgische Journalistik befindet sich 3»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/43>, abgerufen am 23.07.2024.