Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

der eigenen Erfindungsgabe des Künstlers weit mehr Spielraum
gelassen ist. Derartige Arbeiten werden übrigens die kommenden
Geschlechter in eine seltsame Verlegenheit versetzen. Wären nicht
zwei oder drei Figürchen, die allzu deutlich das Gepräge des moder¬
nen Ursprungs an sich tragen, als daß ein aufmerksamer Beobachter
sich könnte täuschen lassen, so würde die geringste Ungewißheit über
die Jahreszahl den zukünftigen Kritikern einen freien Raum von
wenigstens vier Jahrhunderten für ihre Vermuthungen lassen. Außer
den obenerwähnten Figuren könnte sie aber auch noch ein anderes
Zeichen auf den richtigen Weg leiten. In unsrer Epoche nämlich
ist der Eklekticismus in der Kunst so sehr vorherrschend, daß selbst
die unabhängigsten Geister sich nicht ganz vor der Ansteckung hüten
können. Der leitende Gedanke in der Arbeit des Herrn Geerls
ist gewiß durch und durch katholisch; die Ausführung bleibt ganz
und gar in den Schranken des reinsten gothischen Sryles; die Re¬
naissance ist für ihn noch nicht da gewesen. Die Figuren sind
lang und mager, der Faltenwurf ihrer Gewänder systematisch steif,
und alle Linien absichtlich durchaus mager. Da aber, wie wir
weiter oben unseren Lesern in'ö Gedächtniß gerufen haben, die Spitz¬
bogenbaukunst in der Aufeinanderfolge der Epochen mehrere, streng von,
einander zu unterscheidende Charaktere angenommen hat, so kann,
sobald zwischen dem architektonischen Theil eines Werkes und den Bild-
hauerarbeiten daran nicht die vollkommenste Uebereinstimmung herrscht,
der Urheber derselben die Anklage -- wenn es eine solche ist --
deö Eklekticismus nicht zurückweisen. Dieser Mangel an Ueberein¬
stimmung nun, -- so unbedeutend er anch ist, und so sehr wir auf
ihn auch nur deshalb aufmerksam machen, um zu beweisen, daß ein
Kunstwerk, was man auch thue, das Datum seiner Geburt stets an
sich trägt, -- ist uns in dem Werke des Herrn Geerts entgegenge¬
treten. Die Figuren und ihre Ausführung gehören, wir wieder-,
holen es hiermit, höchstens der ersten Hälfte des funfzehnten Jahr¬
hunderts an, die Nischen und die Giockenthürmchen aber fallen in
Folge deö Ueberflusses an unnützen Zierrathen in die Zeit der dritten
Umgestaltung des SpitzbogenstylS, die sich nach dem Urtheil der kom¬
petentesten Richter in diesem Fache bis in die Mitte des folgenden
Jahrhunderts hineinzieht. Es ist dies freilich nur ein Umstand von
geringfügiger Bedeutung; aber, wenn auch alle andren Zeichen fehl'


der eigenen Erfindungsgabe des Künstlers weit mehr Spielraum
gelassen ist. Derartige Arbeiten werden übrigens die kommenden
Geschlechter in eine seltsame Verlegenheit versetzen. Wären nicht
zwei oder drei Figürchen, die allzu deutlich das Gepräge des moder¬
nen Ursprungs an sich tragen, als daß ein aufmerksamer Beobachter
sich könnte täuschen lassen, so würde die geringste Ungewißheit über
die Jahreszahl den zukünftigen Kritikern einen freien Raum von
wenigstens vier Jahrhunderten für ihre Vermuthungen lassen. Außer
den obenerwähnten Figuren könnte sie aber auch noch ein anderes
Zeichen auf den richtigen Weg leiten. In unsrer Epoche nämlich
ist der Eklekticismus in der Kunst so sehr vorherrschend, daß selbst
die unabhängigsten Geister sich nicht ganz vor der Ansteckung hüten
können. Der leitende Gedanke in der Arbeit des Herrn Geerls
ist gewiß durch und durch katholisch; die Ausführung bleibt ganz
und gar in den Schranken des reinsten gothischen Sryles; die Re¬
naissance ist für ihn noch nicht da gewesen. Die Figuren sind
lang und mager, der Faltenwurf ihrer Gewänder systematisch steif,
und alle Linien absichtlich durchaus mager. Da aber, wie wir
weiter oben unseren Lesern in'ö Gedächtniß gerufen haben, die Spitz¬
bogenbaukunst in der Aufeinanderfolge der Epochen mehrere, streng von,
einander zu unterscheidende Charaktere angenommen hat, so kann,
sobald zwischen dem architektonischen Theil eines Werkes und den Bild-
hauerarbeiten daran nicht die vollkommenste Uebereinstimmung herrscht,
der Urheber derselben die Anklage — wenn es eine solche ist —
deö Eklekticismus nicht zurückweisen. Dieser Mangel an Ueberein¬
stimmung nun, — so unbedeutend er anch ist, und so sehr wir auf
ihn auch nur deshalb aufmerksam machen, um zu beweisen, daß ein
Kunstwerk, was man auch thue, das Datum seiner Geburt stets an
sich trägt, — ist uns in dem Werke des Herrn Geerts entgegenge¬
treten. Die Figuren und ihre Ausführung gehören, wir wieder-,
holen es hiermit, höchstens der ersten Hälfte des funfzehnten Jahr¬
hunderts an, die Nischen und die Giockenthürmchen aber fallen in
Folge deö Ueberflusses an unnützen Zierrathen in die Zeit der dritten
Umgestaltung des SpitzbogenstylS, die sich nach dem Urtheil der kom¬
petentesten Richter in diesem Fache bis in die Mitte des folgenden
Jahrhunderts hineinzieht. Es ist dies freilich nur ein Umstand von
geringfügiger Bedeutung; aber, wenn auch alle andren Zeichen fehl'


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0413" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/267030"/>
            <p xml:id="ID_1156" prev="#ID_1155" next="#ID_1157"> der eigenen Erfindungsgabe des Künstlers weit mehr Spielraum<lb/>
gelassen ist. Derartige Arbeiten werden übrigens die kommenden<lb/>
Geschlechter in eine seltsame Verlegenheit versetzen. Wären nicht<lb/>
zwei oder drei Figürchen, die allzu deutlich das Gepräge des moder¬<lb/>
nen Ursprungs an sich tragen, als daß ein aufmerksamer Beobachter<lb/>
sich könnte täuschen lassen, so würde die geringste Ungewißheit über<lb/>
die Jahreszahl den zukünftigen Kritikern einen freien Raum von<lb/>
wenigstens vier Jahrhunderten für ihre Vermuthungen lassen. Außer<lb/>
den obenerwähnten Figuren könnte sie aber auch noch ein anderes<lb/>
Zeichen auf den richtigen Weg leiten. In unsrer Epoche nämlich<lb/>
ist der Eklekticismus in der Kunst so sehr vorherrschend, daß selbst<lb/>
die unabhängigsten Geister sich nicht ganz vor der Ansteckung hüten<lb/>
können.  Der leitende Gedanke in der Arbeit des Herrn Geerls<lb/>
ist gewiß durch und durch katholisch; die Ausführung bleibt ganz<lb/>
und gar in den Schranken des reinsten gothischen Sryles; die Re¬<lb/>
naissance ist für ihn noch nicht da gewesen.  Die Figuren sind<lb/>
lang und mager, der Faltenwurf ihrer Gewänder systematisch steif,<lb/>
und alle Linien absichtlich durchaus mager.  Da aber, wie wir<lb/>
weiter oben unseren Lesern in'ö Gedächtniß gerufen haben, die Spitz¬<lb/>
bogenbaukunst in der Aufeinanderfolge der Epochen mehrere, streng von,<lb/>
einander zu unterscheidende Charaktere angenommen hat, so kann,<lb/>
sobald zwischen dem architektonischen Theil eines Werkes und den Bild-<lb/>
hauerarbeiten daran nicht die vollkommenste Uebereinstimmung herrscht,<lb/>
der Urheber derselben die Anklage &#x2014; wenn es eine solche ist &#x2014;<lb/>
deö Eklekticismus nicht zurückweisen. Dieser Mangel an Ueberein¬<lb/>
stimmung nun, &#x2014; so unbedeutend er anch ist, und so sehr wir auf<lb/>
ihn auch nur deshalb aufmerksam machen, um zu beweisen, daß ein<lb/>
Kunstwerk, was man auch thue, das Datum seiner Geburt stets an<lb/>
sich trägt, &#x2014; ist uns in dem Werke des Herrn Geerts entgegenge¬<lb/>
treten.  Die Figuren und ihre Ausführung gehören, wir wieder-,<lb/>
holen es hiermit, höchstens der ersten Hälfte des funfzehnten Jahr¬<lb/>
hunderts an, die Nischen und die Giockenthürmchen aber fallen in<lb/>
Folge deö Ueberflusses an unnützen Zierrathen in die Zeit der dritten<lb/>
Umgestaltung des SpitzbogenstylS, die sich nach dem Urtheil der kom¬<lb/>
petentesten Richter in diesem Fache bis in die Mitte des folgenden<lb/>
Jahrhunderts hineinzieht.  Es ist dies freilich nur ein Umstand von<lb/>
geringfügiger Bedeutung; aber, wenn auch alle andren Zeichen fehl'</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0413] der eigenen Erfindungsgabe des Künstlers weit mehr Spielraum gelassen ist. Derartige Arbeiten werden übrigens die kommenden Geschlechter in eine seltsame Verlegenheit versetzen. Wären nicht zwei oder drei Figürchen, die allzu deutlich das Gepräge des moder¬ nen Ursprungs an sich tragen, als daß ein aufmerksamer Beobachter sich könnte täuschen lassen, so würde die geringste Ungewißheit über die Jahreszahl den zukünftigen Kritikern einen freien Raum von wenigstens vier Jahrhunderten für ihre Vermuthungen lassen. Außer den obenerwähnten Figuren könnte sie aber auch noch ein anderes Zeichen auf den richtigen Weg leiten. In unsrer Epoche nämlich ist der Eklekticismus in der Kunst so sehr vorherrschend, daß selbst die unabhängigsten Geister sich nicht ganz vor der Ansteckung hüten können. Der leitende Gedanke in der Arbeit des Herrn Geerls ist gewiß durch und durch katholisch; die Ausführung bleibt ganz und gar in den Schranken des reinsten gothischen Sryles; die Re¬ naissance ist für ihn noch nicht da gewesen. Die Figuren sind lang und mager, der Faltenwurf ihrer Gewänder systematisch steif, und alle Linien absichtlich durchaus mager. Da aber, wie wir weiter oben unseren Lesern in'ö Gedächtniß gerufen haben, die Spitz¬ bogenbaukunst in der Aufeinanderfolge der Epochen mehrere, streng von, einander zu unterscheidende Charaktere angenommen hat, so kann, sobald zwischen dem architektonischen Theil eines Werkes und den Bild- hauerarbeiten daran nicht die vollkommenste Uebereinstimmung herrscht, der Urheber derselben die Anklage — wenn es eine solche ist — deö Eklekticismus nicht zurückweisen. Dieser Mangel an Ueberein¬ stimmung nun, — so unbedeutend er anch ist, und so sehr wir auf ihn auch nur deshalb aufmerksam machen, um zu beweisen, daß ein Kunstwerk, was man auch thue, das Datum seiner Geburt stets an sich trägt, — ist uns in dem Werke des Herrn Geerts entgegenge¬ treten. Die Figuren und ihre Ausführung gehören, wir wieder-, holen es hiermit, höchstens der ersten Hälfte des funfzehnten Jahr¬ hunderts an, die Nischen und die Giockenthürmchen aber fallen in Folge deö Ueberflusses an unnützen Zierrathen in die Zeit der dritten Umgestaltung des SpitzbogenstylS, die sich nach dem Urtheil der kom¬ petentesten Richter in diesem Fache bis in die Mitte des folgenden Jahrhunderts hineinzieht. Es ist dies freilich nur ein Umstand von geringfügiger Bedeutung; aber, wenn auch alle andren Zeichen fehl'

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/413
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/413>, abgerufen am 26.08.2024.