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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Rudolph. "Umgekehrt, lieber Freund, Du siehst Alles noch
durch das Prisma des Bletchart, da Du seine violette Farbe
auch in der Kernsicht zu erblicken glaubst: ich bin ganz nüchtern
und mein Auge ist vollkommen klar."

Karl. Mir scheint, daß die Fernsicht eine grau-bläuliche Färbung
hat."

Rudolph. "Und was denkst Du davon, Kamerad?"

I es. "Mir scheint es, Du und Herrmann habt in so weit beide
Recht, daß in der That die beiden von (Lues angegebenen Tin¬
ten sich zugleich in der Farbe dieser Fernsicht befinden; die Ur¬
sache Eures Auseinanoergehenö aber liegt in der Verschiedenheit
Eurer Gefühle."

"Herrmann läßt sich von der Purpur-Tinte, die sich in der Fern¬
sicht befindet, dermaßen beherrschen, daß ihm die grün-bläuliche Farbe,
die darin die violette Tinte mäßigt, gänzlich entgeht."

"Ein Jeder von Euch beiden zieht, vielleicht ohne es zu wissen,
eine besondere Farbe allen andern vor, und so ist es ganz natürlich,
daß er in dem Gegenstande, der uns jetzt beschäftigt, diese Farbe
vorherrschend findet."

"Karl dagegen bemerkt in dieser Fernsicht nur eine grau-bläu¬
liche Färbung, weil sein Auge noch nicht hinlänglich geübt ist, um
die feinen Nüancen zu entdecken und zu unterscheiden, aus denen
die Farbe dieser Fernsicht zusammengesetzt ist."

"Wenn Ihr jetzt, jeder seinerseits, eine Skizze nach der Natur
von dem in Rede stehenden Gegenstand entwürfet, so würden sich in
deren Farben die Beweise für meine Behauptung finden."

"Diese Verschiedenheit des Gefühls ist eine der Hauptursachen
der Verschiedenheit in den Farbentönen, die man in jeden zwei
Gemälden von verschiedenen Meistern wahrnehmen kann, wenn man
sie neben einander stellt, ohne daß man dabei noch auf die Verschie¬
denheiten ihrer eigenthümlichen Art zu malen oder ihres Geschmacks
Rücksicht zu nehmen braucht, die sie schon durch die Wahl ihrer
Stoffe bekunden. Und dennoch können beide Gemälde gleich natur¬
wahr sein."

Man erlaube mir nur noch die Bemerkung, daß wir die in
Rede stehende Fernsicht am Mittag beobachtet hatten. Denn das


Rudolph. „Umgekehrt, lieber Freund, Du siehst Alles noch
durch das Prisma des Bletchart, da Du seine violette Farbe
auch in der Kernsicht zu erblicken glaubst: ich bin ganz nüchtern
und mein Auge ist vollkommen klar."

Karl. Mir scheint, daß die Fernsicht eine grau-bläuliche Färbung
hat."

Rudolph. „Und was denkst Du davon, Kamerad?"

I es. „Mir scheint es, Du und Herrmann habt in so weit beide
Recht, daß in der That die beiden von (Lues angegebenen Tin¬
ten sich zugleich in der Farbe dieser Fernsicht befinden; die Ur¬
sache Eures Auseinanoergehenö aber liegt in der Verschiedenheit
Eurer Gefühle."

„Herrmann läßt sich von der Purpur-Tinte, die sich in der Fern¬
sicht befindet, dermaßen beherrschen, daß ihm die grün-bläuliche Farbe,
die darin die violette Tinte mäßigt, gänzlich entgeht."

„Ein Jeder von Euch beiden zieht, vielleicht ohne es zu wissen,
eine besondere Farbe allen andern vor, und so ist es ganz natürlich,
daß er in dem Gegenstande, der uns jetzt beschäftigt, diese Farbe
vorherrschend findet."

„Karl dagegen bemerkt in dieser Fernsicht nur eine grau-bläu¬
liche Färbung, weil sein Auge noch nicht hinlänglich geübt ist, um
die feinen Nüancen zu entdecken und zu unterscheiden, aus denen
die Farbe dieser Fernsicht zusammengesetzt ist."

„Wenn Ihr jetzt, jeder seinerseits, eine Skizze nach der Natur
von dem in Rede stehenden Gegenstand entwürfet, so würden sich in
deren Farben die Beweise für meine Behauptung finden."

„Diese Verschiedenheit des Gefühls ist eine der Hauptursachen
der Verschiedenheit in den Farbentönen, die man in jeden zwei
Gemälden von verschiedenen Meistern wahrnehmen kann, wenn man
sie neben einander stellt, ohne daß man dabei noch auf die Verschie¬
denheiten ihrer eigenthümlichen Art zu malen oder ihres Geschmacks
Rücksicht zu nehmen braucht, die sie schon durch die Wahl ihrer
Stoffe bekunden. Und dennoch können beide Gemälde gleich natur¬
wahr sein."

Man erlaube mir nur noch die Bemerkung, daß wir die in
Rede stehende Fernsicht am Mittag beobachtet hatten. Denn das


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[0366] Rudolph. „Umgekehrt, lieber Freund, Du siehst Alles noch durch das Prisma des Bletchart, da Du seine violette Farbe auch in der Kernsicht zu erblicken glaubst: ich bin ganz nüchtern und mein Auge ist vollkommen klar." Karl. Mir scheint, daß die Fernsicht eine grau-bläuliche Färbung hat." Rudolph. „Und was denkst Du davon, Kamerad?" I es. „Mir scheint es, Du und Herrmann habt in so weit beide Recht, daß in der That die beiden von (Lues angegebenen Tin¬ ten sich zugleich in der Farbe dieser Fernsicht befinden; die Ur¬ sache Eures Auseinanoergehenö aber liegt in der Verschiedenheit Eurer Gefühle." „Herrmann läßt sich von der Purpur-Tinte, die sich in der Fern¬ sicht befindet, dermaßen beherrschen, daß ihm die grün-bläuliche Farbe, die darin die violette Tinte mäßigt, gänzlich entgeht." „Ein Jeder von Euch beiden zieht, vielleicht ohne es zu wissen, eine besondere Farbe allen andern vor, und so ist es ganz natürlich, daß er in dem Gegenstande, der uns jetzt beschäftigt, diese Farbe vorherrschend findet." „Karl dagegen bemerkt in dieser Fernsicht nur eine grau-bläu¬ liche Färbung, weil sein Auge noch nicht hinlänglich geübt ist, um die feinen Nüancen zu entdecken und zu unterscheiden, aus denen die Farbe dieser Fernsicht zusammengesetzt ist." „Wenn Ihr jetzt, jeder seinerseits, eine Skizze nach der Natur von dem in Rede stehenden Gegenstand entwürfet, so würden sich in deren Farben die Beweise für meine Behauptung finden." „Diese Verschiedenheit des Gefühls ist eine der Hauptursachen der Verschiedenheit in den Farbentönen, die man in jeden zwei Gemälden von verschiedenen Meistern wahrnehmen kann, wenn man sie neben einander stellt, ohne daß man dabei noch auf die Verschie¬ denheiten ihrer eigenthümlichen Art zu malen oder ihres Geschmacks Rücksicht zu nehmen braucht, die sie schon durch die Wahl ihrer Stoffe bekunden. Und dennoch können beide Gemälde gleich natur¬ wahr sein." Man erlaube mir nur noch die Bemerkung, daß wir die in Rede stehende Fernsicht am Mittag beobachtet hatten. Denn das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/366>, abgerufen am 03.07.2024.