Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

Bild:
<< vorherige Seite

antwortlichkeit für die Seele, die verloren geht. Wahrlich, wahrlich,
ich sage Euch, Ihr Gesetzgeber und Richter, Ihr tragt Seelenlast.

Ich will zum Schlüsse dieses Aufsatzes nur noch den gefühl¬
vollen Seelen ein kleines Ereigniß ans dem Leben erzählen, dessen
Zeuge ich letzthin war und das vielleicht, mir selbst unbewußt, die
Ursache zu diesen Zeilen geworden ist.

Ein Knabe von zehn bis zwölf Jahren erschien in einer deut¬
schen Rheinstadt vor dem Zuchtpolizeigericht unter der Anklage eines
aufenthaltslosen Herumstreifens. Der Richter frug ihn: Fodern
Dich denn Deine Eltern nicht zurück?

Sie sind, entgegnete das Kind, weil sie keine Wohnung hatten,
eingesperrt worden; der Vater in U. . . im Arbeitshause und die
Mutter in ?. . . .

Der Richter, nachdem er sich durch amtlichen Nachweis über¬
zeugt, daß dem wirklich so sei, entschied über das Schicksal des Kin-
des, indem er es in eine dritte VerbesserungSanstalt schickte. Da
waren nun Vater, Mutter und Sohn vielleicht für ihr ganzes Le¬
ben von einander gerissen!

Sagt mir nun, Ihr gefühlvollen Seelen, die Ihr den fünften
Act aller Iffland'schen und Houwald'schen Stücke vor Eurem eigenen
Weinen und Schluchzen kaum sehen und hören könnt, ist diese ein¬
fache Thatsache nicht rührender, ergreifender und fruchtbarer an trau¬
rigen und ernsten Betrachtungen, als alle jene faden Dichtungen,
die Euch so bittersüße Thränen entlocken? Habt Ihr nicht da den
besten Grund zum Weinen?. Aber nein! Das ist zu einfach, zu
wirklich, zu gemein, als daß es Eure Herzen rühren könnte, welche
durch die Verfeinerungen Eurer Sinnlichkeit und übertriebenen Em¬
pfindsamkeit verdorben sind und Euren Mägen gleichen, die Ihr durch
Leckereien verschlemmt habt, daß nur die stärksten Gewürze noch einen
Eindruck auf Euch machen.

Ihr aber, Ihr Gesetzgeber, Euch frage ich, wäre es denn nicht
möglich gewesen, mir Vater, Mutter und Kind wenigstens in
eine Besserungsanstalt zusammenzugeben? Und wäre es von Euch,
den Wächtern der Gesellschaft, zu viel gefodert, und würde es Euch
zu viel gekostet haben, wenn Ihr diese arme Familie in einer freien
Wohnung vereinigt und ihr Arbeit und Freiheit zugleich gegeben
hättet? O, ich bitte Euch, die Ihr die Leitung der Gesellschaft


antwortlichkeit für die Seele, die verloren geht. Wahrlich, wahrlich,
ich sage Euch, Ihr Gesetzgeber und Richter, Ihr tragt Seelenlast.

Ich will zum Schlüsse dieses Aufsatzes nur noch den gefühl¬
vollen Seelen ein kleines Ereigniß ans dem Leben erzählen, dessen
Zeuge ich letzthin war und das vielleicht, mir selbst unbewußt, die
Ursache zu diesen Zeilen geworden ist.

Ein Knabe von zehn bis zwölf Jahren erschien in einer deut¬
schen Rheinstadt vor dem Zuchtpolizeigericht unter der Anklage eines
aufenthaltslosen Herumstreifens. Der Richter frug ihn: Fodern
Dich denn Deine Eltern nicht zurück?

Sie sind, entgegnete das Kind, weil sie keine Wohnung hatten,
eingesperrt worden; der Vater in U. . . im Arbeitshause und die
Mutter in ?. . . .

Der Richter, nachdem er sich durch amtlichen Nachweis über¬
zeugt, daß dem wirklich so sei, entschied über das Schicksal des Kin-
des, indem er es in eine dritte VerbesserungSanstalt schickte. Da
waren nun Vater, Mutter und Sohn vielleicht für ihr ganzes Le¬
ben von einander gerissen!

Sagt mir nun, Ihr gefühlvollen Seelen, die Ihr den fünften
Act aller Iffland'schen und Houwald'schen Stücke vor Eurem eigenen
Weinen und Schluchzen kaum sehen und hören könnt, ist diese ein¬
fache Thatsache nicht rührender, ergreifender und fruchtbarer an trau¬
rigen und ernsten Betrachtungen, als alle jene faden Dichtungen,
die Euch so bittersüße Thränen entlocken? Habt Ihr nicht da den
besten Grund zum Weinen?. Aber nein! Das ist zu einfach, zu
wirklich, zu gemein, als daß es Eure Herzen rühren könnte, welche
durch die Verfeinerungen Eurer Sinnlichkeit und übertriebenen Em¬
pfindsamkeit verdorben sind und Euren Mägen gleichen, die Ihr durch
Leckereien verschlemmt habt, daß nur die stärksten Gewürze noch einen
Eindruck auf Euch machen.

Ihr aber, Ihr Gesetzgeber, Euch frage ich, wäre es denn nicht
möglich gewesen, mir Vater, Mutter und Kind wenigstens in
eine Besserungsanstalt zusammenzugeben? Und wäre es von Euch,
den Wächtern der Gesellschaft, zu viel gefodert, und würde es Euch
zu viel gekostet haben, wenn Ihr diese arme Familie in einer freien
Wohnung vereinigt und ihr Arbeit und Freiheit zugleich gegeben
hättet? O, ich bitte Euch, die Ihr die Leitung der Gesellschaft


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0272" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/266889"/>
            <p xml:id="ID_705" prev="#ID_704"> antwortlichkeit für die Seele, die verloren geht. Wahrlich, wahrlich,<lb/>
ich sage Euch, Ihr Gesetzgeber und Richter, Ihr tragt Seelenlast.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_706"> Ich will zum Schlüsse dieses Aufsatzes nur noch den gefühl¬<lb/>
vollen Seelen ein kleines Ereigniß ans dem Leben erzählen, dessen<lb/>
Zeuge ich letzthin war und das vielleicht, mir selbst unbewußt, die<lb/>
Ursache zu diesen Zeilen geworden ist.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_707"> Ein Knabe von zehn bis zwölf Jahren erschien in einer deut¬<lb/>
schen Rheinstadt vor dem Zuchtpolizeigericht unter der Anklage eines<lb/>
aufenthaltslosen Herumstreifens. Der Richter frug ihn: Fodern<lb/>
Dich denn Deine Eltern nicht zurück?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_708"> Sie sind, entgegnete das Kind, weil sie keine Wohnung hatten,<lb/>
eingesperrt worden; der Vater in U. . . im Arbeitshause und die<lb/>
Mutter in ?. . . .</p><lb/>
            <p xml:id="ID_709"> Der Richter, nachdem er sich durch amtlichen Nachweis über¬<lb/>
zeugt, daß dem wirklich so sei, entschied über das Schicksal des Kin-<lb/>
des, indem er es in eine dritte VerbesserungSanstalt schickte. Da<lb/>
waren nun Vater, Mutter und Sohn vielleicht für ihr ganzes Le¬<lb/>
ben von einander gerissen!</p><lb/>
            <p xml:id="ID_710"> Sagt mir nun, Ihr gefühlvollen Seelen, die Ihr den fünften<lb/>
Act aller Iffland'schen und Houwald'schen Stücke vor Eurem eigenen<lb/>
Weinen und Schluchzen kaum sehen und hören könnt, ist diese ein¬<lb/>
fache Thatsache nicht rührender, ergreifender und fruchtbarer an trau¬<lb/>
rigen und ernsten Betrachtungen, als alle jene faden Dichtungen,<lb/>
die Euch so bittersüße Thränen entlocken? Habt Ihr nicht da den<lb/>
besten Grund zum Weinen?. Aber nein! Das ist zu einfach, zu<lb/>
wirklich, zu gemein, als daß es Eure Herzen rühren könnte, welche<lb/>
durch die Verfeinerungen Eurer Sinnlichkeit und übertriebenen Em¬<lb/>
pfindsamkeit verdorben sind und Euren Mägen gleichen, die Ihr durch<lb/>
Leckereien verschlemmt habt, daß nur die stärksten Gewürze noch einen<lb/>
Eindruck auf Euch machen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_711" next="#ID_712"> Ihr aber, Ihr Gesetzgeber, Euch frage ich, wäre es denn nicht<lb/>
möglich gewesen, mir Vater, Mutter und Kind wenigstens in<lb/>
eine Besserungsanstalt zusammenzugeben? Und wäre es von Euch,<lb/>
den Wächtern der Gesellschaft, zu viel gefodert, und würde es Euch<lb/>
zu viel gekostet haben, wenn Ihr diese arme Familie in einer freien<lb/>
Wohnung vereinigt und ihr Arbeit und Freiheit zugleich gegeben<lb/>
hättet?  O, ich bitte Euch, die Ihr die Leitung der Gesellschaft</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0272] antwortlichkeit für die Seele, die verloren geht. Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch, Ihr Gesetzgeber und Richter, Ihr tragt Seelenlast. Ich will zum Schlüsse dieses Aufsatzes nur noch den gefühl¬ vollen Seelen ein kleines Ereigniß ans dem Leben erzählen, dessen Zeuge ich letzthin war und das vielleicht, mir selbst unbewußt, die Ursache zu diesen Zeilen geworden ist. Ein Knabe von zehn bis zwölf Jahren erschien in einer deut¬ schen Rheinstadt vor dem Zuchtpolizeigericht unter der Anklage eines aufenthaltslosen Herumstreifens. Der Richter frug ihn: Fodern Dich denn Deine Eltern nicht zurück? Sie sind, entgegnete das Kind, weil sie keine Wohnung hatten, eingesperrt worden; der Vater in U. . . im Arbeitshause und die Mutter in ?. . . . Der Richter, nachdem er sich durch amtlichen Nachweis über¬ zeugt, daß dem wirklich so sei, entschied über das Schicksal des Kin- des, indem er es in eine dritte VerbesserungSanstalt schickte. Da waren nun Vater, Mutter und Sohn vielleicht für ihr ganzes Le¬ ben von einander gerissen! Sagt mir nun, Ihr gefühlvollen Seelen, die Ihr den fünften Act aller Iffland'schen und Houwald'schen Stücke vor Eurem eigenen Weinen und Schluchzen kaum sehen und hören könnt, ist diese ein¬ fache Thatsache nicht rührender, ergreifender und fruchtbarer an trau¬ rigen und ernsten Betrachtungen, als alle jene faden Dichtungen, die Euch so bittersüße Thränen entlocken? Habt Ihr nicht da den besten Grund zum Weinen?. Aber nein! Das ist zu einfach, zu wirklich, zu gemein, als daß es Eure Herzen rühren könnte, welche durch die Verfeinerungen Eurer Sinnlichkeit und übertriebenen Em¬ pfindsamkeit verdorben sind und Euren Mägen gleichen, die Ihr durch Leckereien verschlemmt habt, daß nur die stärksten Gewürze noch einen Eindruck auf Euch machen. Ihr aber, Ihr Gesetzgeber, Euch frage ich, wäre es denn nicht möglich gewesen, mir Vater, Mutter und Kind wenigstens in eine Besserungsanstalt zusammenzugeben? Und wäre es von Euch, den Wächtern der Gesellschaft, zu viel gefodert, und würde es Euch zu viel gekostet haben, wenn Ihr diese arme Familie in einer freien Wohnung vereinigt und ihr Arbeit und Freiheit zugleich gegeben hättet? O, ich bitte Euch, die Ihr die Leitung der Gesellschaft

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/272
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/272>, abgerufen am 29.06.2024.