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Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester.

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Jahre und Monate, der Tage, Stunden und Minuten uns verlässt?
Keineswegs, lieber Leser! -- Ich will nicht von all diesen abgedro¬
schenen Gemeinplätzen hier sprechen? Was geht mich die moralische
Welt an! Dazu bin ich viel zu prosaisch und positiv. Sollte ich in
meinen Jahren etwa noch Klagelieder singen über diesen Kranz von
eingebildeten Blumen, den die Dichter erfunden haben, um das
Haupt der Menschen damit zu zieren, wenn er in'ö Leben eintritt!
Soll ich Jeremiaden darüber anstimmen, wie theuer unsrem Herzen
und unsrem Geist die Erfahrung zu stehen kommt, diese lange Rei¬
henfolge immer neuer Dummheiten! Soll ich Elegien weinen
darüber, daß der Mensch vergeht, obgleich er in seinen Kindern und
Enkeln von Neuem auflebt! (Beiläufig bemerkt, ist Letzteres für die
Menschen doch nicht ganz dasselbe und mancher gar zu lebenslustige
würde die Seelenwanderung vorziehen). Nein und abermals nein,
mein lieber Leser! Von all diesen Dingen will ich in diesen aus¬
drücklich zu Deiner Unterhaltung lob Belehrung geschriebenen Zei¬
len nicht sprechen. Lassen wir ruhig die Begierden, Kräfte und
Leidenschaften im Menschen ersterben, je nachdem er seine Jugend
erlebt hat! Lassen wir ihn eine nach der andern seine Illusionen,
seine Hoffnungen, all die leeren Spiegelbilder seines Herzens und
Geistes verlieren! Sehen wir ruhig zu, wie die Liebe von ihm hin¬
wegfliegt, wie die Freundschaft wankend wird, und wie seine Zähne
desgleichen thun, wie sein Bart erst grau und dann weiß wird, wie
seine Haare bleichen und ausfallen! Kurz, lassen wir ihn in seinem
ganzen physischen und moralischen Wesen nach und nach den Einfluß
des großen Naturgesetzes aller Dinge empfinden, die gewesen
sind und die alle mit Nicht mehr sein enden werden. . . . Sagt
man doch, die Welt selbst werde kein anderes Ende nehmen. . . .
Es wird dazu, so heißt es, nur eines Posaunenstvßeö bedürfen.
Frage: was wird nach dem Weltenuntergang aus dieser Posaune?

Also, wohl verstanden, es wird hier nicht die Rede sein von
dem, was das Leben uns an Seele und Körper kostet, -- sondern
ganz einfach von dem, was es uns an baarem Gelde kostet. Ich
will hier einmal den Versuch machen, aus Quittungen über Haus¬
miethe, aus Rechnungen von Schneider und Schuhmacher, von
Waschfrau und Apotheker u. dergl. mehr ein -- nun sei es auch
nur, ein Feuilleton zu machen.


Jahre und Monate, der Tage, Stunden und Minuten uns verlässt?
Keineswegs, lieber Leser! — Ich will nicht von all diesen abgedro¬
schenen Gemeinplätzen hier sprechen? Was geht mich die moralische
Welt an! Dazu bin ich viel zu prosaisch und positiv. Sollte ich in
meinen Jahren etwa noch Klagelieder singen über diesen Kranz von
eingebildeten Blumen, den die Dichter erfunden haben, um das
Haupt der Menschen damit zu zieren, wenn er in'ö Leben eintritt!
Soll ich Jeremiaden darüber anstimmen, wie theuer unsrem Herzen
und unsrem Geist die Erfahrung zu stehen kommt, diese lange Rei¬
henfolge immer neuer Dummheiten! Soll ich Elegien weinen
darüber, daß der Mensch vergeht, obgleich er in seinen Kindern und
Enkeln von Neuem auflebt! (Beiläufig bemerkt, ist Letzteres für die
Menschen doch nicht ganz dasselbe und mancher gar zu lebenslustige
würde die Seelenwanderung vorziehen). Nein und abermals nein,
mein lieber Leser! Von all diesen Dingen will ich in diesen aus¬
drücklich zu Deiner Unterhaltung lob Belehrung geschriebenen Zei¬
len nicht sprechen. Lassen wir ruhig die Begierden, Kräfte und
Leidenschaften im Menschen ersterben, je nachdem er seine Jugend
erlebt hat! Lassen wir ihn eine nach der andern seine Illusionen,
seine Hoffnungen, all die leeren Spiegelbilder seines Herzens und
Geistes verlieren! Sehen wir ruhig zu, wie die Liebe von ihm hin¬
wegfliegt, wie die Freundschaft wankend wird, und wie seine Zähne
desgleichen thun, wie sein Bart erst grau und dann weiß wird, wie
seine Haare bleichen und ausfallen! Kurz, lassen wir ihn in seinem
ganzen physischen und moralischen Wesen nach und nach den Einfluß
des großen Naturgesetzes aller Dinge empfinden, die gewesen
sind und die alle mit Nicht mehr sein enden werden. . . . Sagt
man doch, die Welt selbst werde kein anderes Ende nehmen. . . .
Es wird dazu, so heißt es, nur eines Posaunenstvßeö bedürfen.
Frage: was wird nach dem Weltenuntergang aus dieser Posaune?

Also, wohl verstanden, es wird hier nicht die Rede sein von
dem, was das Leben uns an Seele und Körper kostet, — sondern
ganz einfach von dem, was es uns an baarem Gelde kostet. Ich
will hier einmal den Versuch machen, aus Quittungen über Haus¬
miethe, aus Rechnungen von Schneider und Schuhmacher, von
Waschfrau und Apotheker u. dergl. mehr ein — nun sei es auch
nur, ein Feuilleton zu machen.


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[0174] Jahre und Monate, der Tage, Stunden und Minuten uns verlässt? Keineswegs, lieber Leser! — Ich will nicht von all diesen abgedro¬ schenen Gemeinplätzen hier sprechen? Was geht mich die moralische Welt an! Dazu bin ich viel zu prosaisch und positiv. Sollte ich in meinen Jahren etwa noch Klagelieder singen über diesen Kranz von eingebildeten Blumen, den die Dichter erfunden haben, um das Haupt der Menschen damit zu zieren, wenn er in'ö Leben eintritt! Soll ich Jeremiaden darüber anstimmen, wie theuer unsrem Herzen und unsrem Geist die Erfahrung zu stehen kommt, diese lange Rei¬ henfolge immer neuer Dummheiten! Soll ich Elegien weinen darüber, daß der Mensch vergeht, obgleich er in seinen Kindern und Enkeln von Neuem auflebt! (Beiläufig bemerkt, ist Letzteres für die Menschen doch nicht ganz dasselbe und mancher gar zu lebenslustige würde die Seelenwanderung vorziehen). Nein und abermals nein, mein lieber Leser! Von all diesen Dingen will ich in diesen aus¬ drücklich zu Deiner Unterhaltung lob Belehrung geschriebenen Zei¬ len nicht sprechen. Lassen wir ruhig die Begierden, Kräfte und Leidenschaften im Menschen ersterben, je nachdem er seine Jugend erlebt hat! Lassen wir ihn eine nach der andern seine Illusionen, seine Hoffnungen, all die leeren Spiegelbilder seines Herzens und Geistes verlieren! Sehen wir ruhig zu, wie die Liebe von ihm hin¬ wegfliegt, wie die Freundschaft wankend wird, und wie seine Zähne desgleichen thun, wie sein Bart erst grau und dann weiß wird, wie seine Haare bleichen und ausfallen! Kurz, lassen wir ihn in seinem ganzen physischen und moralischen Wesen nach und nach den Einfluß des großen Naturgesetzes aller Dinge empfinden, die gewesen sind und die alle mit Nicht mehr sein enden werden. . . . Sagt man doch, die Welt selbst werde kein anderes Ende nehmen. . . . Es wird dazu, so heißt es, nur eines Posaunenstvßeö bedürfen. Frage: was wird nach dem Weltenuntergang aus dieser Posaune? Also, wohl verstanden, es wird hier nicht die Rede sein von dem, was das Leben uns an Seele und Körper kostet, — sondern ganz einfach von dem, was es uns an baarem Gelde kostet. Ich will hier einmal den Versuch machen, aus Quittungen über Haus¬ miethe, aus Rechnungen von Schneider und Schuhmacher, von Waschfrau und Apotheker u. dergl. mehr ein — nun sei es auch nur, ein Feuilleton zu machen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 2, 1842, Zweites Semester, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_282160_266616/174>, abgerufen am 23.07.2024.