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Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841.

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auf dem halben Wege Eure Pläne geändert ohne zugleich einen andern Weg
einzuschlagen, und seid Ihr irre gegangen, so dürft Ihr nicht das Geschick
sondern nur Euch selbst anklagen. Ein bloßer Wunsch ist noch kein Wille.
In der Kraft liegt der Wille. Jeder Mensch und mehr noch jedes Volk
kann, was es will. Bettler weist das Glück von sich, es bewilligt alles,
was man ihm gebieterisch abverlangt.

Das achtzehnte Jahrhundert hat dem neunzehnten nichts vorgelogen,
es hat alle seine Verpflichtungen erfüllt, Ihr habt keine Forderung mehr
an es zu machen. Sein riesenhaftes Programm hat sich vor Euren Au¬
gen bis zum letzten Gemälde feierlich entrollt. Die damalige Literatur hat
ihre Wirkung hervorgebracht. Was sie gesäet hat, das habt Ihr geerndtet.
Wollt Ihr andere Früchte, so bedürft Ihr andere Saaten und neue Arbeit.
Die voltairische Philosophie, diese Quelle der damaligen Zeitgeschichte, ist er¬
schöpft und vertrocknet. Die Schüler des Dichters der Pucelle haben ge¬
siegt, die Actionnäre der Encyklopädie haben gute Geschäfte gemacht; was
hat man da zu klagen? Giebt es Unbehaglichkeiten, die nicht blos von heute,e,
sondern älter sind, so hat das darin seinen Grund, daß es auch ältere Täu¬
schungen giebt. Wahr ist es, manche sociale Nothwendigkeiten erwarten noch
heute ihre Befriedigung und sind schon in den ersten Zeiten der Revolution
tief gefühlt worden, aber damals, wie heute, nur in der erhöhten Stim¬
mung einzelner hellsehender und prophetischer Geister, in der Aufwallung edler
Gemüther, es war dieß nur Schaum und hohles Luftgebilde. Die wahrhafte
Begeisterung, welche Hindernisse überwindet, ist das Hervortreten der Ue¬
berzeugung der ganzen Welt. Es bedarf aber eines langen Wachsthumes
bis aus den Meinungen der Einzelnen die einer Nation sich entwickeln, ehe
diese Meinungen zu Ueberzeugungen werden und ehe diese ihre Dämme über¬
schreiten.

Wieviel Anhänger zählt jede Meinung, die dem gegenwärtigen Zu¬
stande der Dinge vorauseilt? Sehr wenige, und sind es viele, -- um so
[s]chlimmer; dann wäre der Beweis leicht zu führen, daß die Anhänger dieser
Meinungen die Anzahl und die Stärke ihrer Partei selbst nicht kennen, weil
sie unter sich nicht einig sind und sich nicht gezählt haben. Wären sie einig
und fühlten sie ihre Stärke, warum sind sie so muthlos? Mit Schmerz
mußten wir uns also verschiedene jetzige Zustände erklären.

Der Stand der Literatoren war früher ein Priesterthum, jetzt ist er
ein Handwerk. Die des achtzehnten Jahrhunderts jagten nicht nach Glücks¬
gütern, das Glück suchte sie auf. Als die Erzieher der Menschheit noch in Dach¬
stübchen wohnten, wurden sie von Königen besucht, seitdem sie wie Stutzer
einquartirt sind, kommen nur noch Bediente zu ihnen, um ihnen Einla¬
dungskarten zu bringen, die für Jedermann lithographirt sind und nach

auf dem halben Wege Eure Pläne geändert ohne zugleich einen andern Weg
einzuschlagen, und seid Ihr irre gegangen, so dürft Ihr nicht das Geschick
sondern nur Euch selbst anklagen. Ein bloßer Wunsch ist noch kein Wille.
In der Kraft liegt der Wille. Jeder Mensch und mehr noch jedes Volk
kann, was es will. Bettler weist das Glück von sich, es bewilligt alles,
was man ihm gebieterisch abverlangt.

Das achtzehnte Jahrhundert hat dem neunzehnten nichts vorgelogen,
es hat alle seine Verpflichtungen erfüllt, Ihr habt keine Forderung mehr
an es zu machen. Sein riesenhaftes Programm hat sich vor Euren Au¬
gen bis zum letzten Gemälde feierlich entrollt. Die damalige Literatur hat
ihre Wirkung hervorgebracht. Was sie gesäet hat, das habt Ihr geerndtet.
Wollt Ihr andere Früchte, so bedürft Ihr andere Saaten und neue Arbeit.
Die voltairische Philosophie, diese Quelle der damaligen Zeitgeschichte, ist er¬
schöpft und vertrocknet. Die Schüler des Dichters der Pucelle haben ge¬
siegt, die Actionnäre der Encyklopädie haben gute Geschäfte gemacht; was
hat man da zu klagen? Giebt es Unbehaglichkeiten, die nicht blos von heute,e,
sondern älter sind, so hat das darin seinen Grund, daß es auch ältere Täu¬
schungen giebt. Wahr ist es, manche sociale Nothwendigkeiten erwarten noch
heute ihre Befriedigung und sind schon in den ersten Zeiten der Revolution
tief gefühlt worden, aber damals, wie heute, nur in der erhöhten Stim¬
mung einzelner hellsehender und prophetischer Geister, in der Aufwallung edler
Gemüther, es war dieß nur Schaum und hohles Luftgebilde. Die wahrhafte
Begeisterung, welche Hindernisse überwindet, ist das Hervortreten der Ue¬
berzeugung der ganzen Welt. Es bedarf aber eines langen Wachsthumes
bis aus den Meinungen der Einzelnen die einer Nation sich entwickeln, ehe
diese Meinungen zu Ueberzeugungen werden und ehe diese ihre Dämme über¬
schreiten.

Wieviel Anhänger zählt jede Meinung, die dem gegenwärtigen Zu¬
stande der Dinge vorauseilt? Sehr wenige, und sind es viele, — um so
[s]chlimmer; dann wäre der Beweis leicht zu führen, daß die Anhänger dieser
Meinungen die Anzahl und die Stärke ihrer Partei selbst nicht kennen, weil
sie unter sich nicht einig sind und sich nicht gezählt haben. Wären sie einig
und fühlten sie ihre Stärke, warum sind sie so muthlos? Mit Schmerz
mußten wir uns also verschiedene jetzige Zustände erklären.

Der Stand der Literatoren war früher ein Priesterthum, jetzt ist er
ein Handwerk. Die des achtzehnten Jahrhunderts jagten nicht nach Glücks¬
gütern, das Glück suchte sie auf. Als die Erzieher der Menschheit noch in Dach¬
stübchen wohnten, wurden sie von Königen besucht, seitdem sie wie Stutzer
einquartirt sind, kommen nur noch Bediente zu ihnen, um ihnen Einla¬
dungskarten zu bringen, die für Jedermann lithographirt sind und nach

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[110/0118] auf dem halben Wege Eure Pläne geändert ohne zugleich einen andern Weg einzuschlagen, und seid Ihr irre gegangen, so dürft Ihr nicht das Geschick sondern nur Euch selbst anklagen. Ein bloßer Wunsch ist noch kein Wille. In der Kraft liegt der Wille. Jeder Mensch und mehr noch jedes Volk kann, was es will. Bettler weist das Glück von sich, es bewilligt alles, was man ihm gebieterisch abverlangt. Das achtzehnte Jahrhundert hat dem neunzehnten nichts vorgelogen, es hat alle seine Verpflichtungen erfüllt, Ihr habt keine Forderung mehr an es zu machen. Sein riesenhaftes Programm hat sich vor Euren Au¬ gen bis zum letzten Gemälde feierlich entrollt. Die damalige Literatur hat ihre Wirkung hervorgebracht. Was sie gesäet hat, das habt Ihr geerndtet. Wollt Ihr andere Früchte, so bedürft Ihr andere Saaten und neue Arbeit. Die voltairische Philosophie, diese Quelle der damaligen Zeitgeschichte, ist er¬ schöpft und vertrocknet. Die Schüler des Dichters der Pucelle haben ge¬ siegt, die Actionnäre der Encyklopädie haben gute Geschäfte gemacht; was hat man da zu klagen? Giebt es Unbehaglichkeiten, die nicht blos von heute,e, sondern älter sind, so hat das darin seinen Grund, daß es auch ältere Täu¬ schungen giebt. Wahr ist es, manche sociale Nothwendigkeiten erwarten noch heute ihre Befriedigung und sind schon in den ersten Zeiten der Revolution tief gefühlt worden, aber damals, wie heute, nur in der erhöhten Stim¬ mung einzelner hellsehender und prophetischer Geister, in der Aufwallung edler Gemüther, es war dieß nur Schaum und hohles Luftgebilde. Die wahrhafte Begeisterung, welche Hindernisse überwindet, ist das Hervortreten der Ue¬ berzeugung der ganzen Welt. Es bedarf aber eines langen Wachsthumes bis aus den Meinungen der Einzelnen die einer Nation sich entwickeln, ehe diese Meinungen zu Ueberzeugungen werden und ehe diese ihre Dämme über¬ schreiten. Wieviel Anhänger zählt jede Meinung, die dem gegenwärtigen Zu¬ stande der Dinge vorauseilt? Sehr wenige, und sind es viele, — um so schlimmer; dann wäre der Beweis leicht zu führen, daß die Anhänger dieser Meinungen die Anzahl und die Stärke ihrer Partei selbst nicht kennen, weil sie unter sich nicht einig sind und sich nicht gezählt haben. Wären sie einig und fühlten sie ihre Stärke, warum sind sie so muthlos? Mit Schmerz mußten wir uns also verschiedene jetzige Zustände erklären. Der Stand der Literatoren war früher ein Priesterthum, jetzt ist er ein Handwerk. Die des achtzehnten Jahrhunderts jagten nicht nach Glücks¬ gütern, das Glück suchte sie auf. Als die Erzieher der Menschheit noch in Dach¬ stübchen wohnten, wurden sie von Königen besucht, seitdem sie wie Stutzer einquartirt sind, kommen nur noch Bediente zu ihnen, um ihnen Einla¬ dungskarten zu bringen, die für Jedermann lithographirt sind und nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Erster Jahrgang. Leipzig, 1841, S. 110. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_179382_282158/118>, abgerufen am 25.11.2024.